Mehrsprachige Kindererziehung

- eine große Chance für das ganze Leben -

Sprachforscher, Pädagogen, Therapeuten und aufgeweckte Eltern sind sich einig: Mehrere Sprachen zu sprechen und zu verstehen ist für jedes Kind ein Geschenk und ein Schlüssel zu mehr Kommunikation, mehr sozialer Offenheit und Teilhabe an der Gesellschaft somit förderlich für die Persönlichkeitsentwicklung bis ins hohe Alter.

Grundsätzliche Gedanken zum Spracherwerb

Sprache ist ein zentraler „Marker“ im Rahmen der psychomotorischen und emotional sozialen Entwicklung jedes Kindes.

Liebevolle Eltern verfügen intuitiv über die angeborene Fähigkeit zur Sprachanbahnung und kontinuierlichen, altersgerechten Förderung ihrer Kinder: Vom kleinsten Säugling mit seinen amüsanten Lalllauten über Ein-Zweiwortsätze bis zur individuellen Vollendung der Sprache mit 4- 5 Jahren.

In jeder Familie rufen die ersten Silben und selbst kleinste Sätze helle Aufregung und Freude hervor. Zu Ehren der Mutter wird weltweit die erstmals im Leben gehörte und erfasste Sprache „Muttersprache“ genannt - was keinesfalls eine Diskriminierung gleichberechtigter und ebenso intensiv geforderter Väter bedeutet. Alle Bezugspersonen sind in die frühkindliche Sprachentwicklung durch kindgemäßes Reden und Singen in emotionaler Wohlfühlsituation einschließlich aufmerksamem und geduldigem Zuhören eingebunden. Durch ihre Vorbildfunktion tragen sie große Verantwortung beim Spracherwerb.

Eine gute Erstsprachentwicklung ist die beste Voraussetzung für den erfolgreichen Erwerb einer Zweitsprache

Sprechen Vater, Mutter und weitere Familienmitglieder die gleiche Muttersprache hört und erlernt das Baby wie selbstverständlich diese Erstsprache mit allen Strukturen zuerst. Sprechen Vater und Mutter zwei verschiedene Muttersprachen besteht eine Bilingualität. Kinder mit mehr als zwei „Sprachkreisen“ in der direkten Umgebung wachsen multilingual auf.

Wie gut diese „soziale und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit“ ganz selbstverständlich funktioniert, erleben wir in der viersprachigen Schweiz oder beim unkomplizierten Erwerb unserer wertvollen Regionaldialekte.

Gesunde Kinder sind grundsätzlich in der Lage mehrere Sprachen gleichzeitig (simultan) oder auch nacheinander (sukzessiv) zu „verarbeiten“. Zum Erwerb einer Zweitsprache als Fremdsprache – ob mit oder ohne Lehrer - sollte jedes Kind möglichst früh häufige kommunikative Kontakte mit seinen Mitmenschen pflegen. Allerspätestens dann, wenn die Erstsprache in Lauten, Wortschatz, Grammatik und emotionalem Verständnis meist zwischen dem vierten und fünften Geburtstag weitgehend gesichert ist. Gesunde Kinder können dank ihrer extrem formbaren „plastischen“ Gehirnstruktur und -organisation leicht mehrere Sprachen gleichzeitig erlernen. Hirnforscher berichten über zunehmende Vernetzung im Sprachzentrum durch ständige Neuanforderungen, die selbst im Alter einer drohenden Demenz vorbeugen können.

Ich erinnere mich sehr gut an ein 5-jähriges chinesisches Mädchen in meiner Kinderarztpraxis, das wegen beruflich häufigen Wohnortwechsels seiner Eltern neben chinesisch, englisch auch französisch und sehr schnell erstaunliche Deutschkenntnisse mit sichtlichem Vergnügen präsentierte. Ein Phänomen, das wir bei unseren Integrationsbemühungen motivierter Asylantenkindern in Kita und Schule täglich erleben.

Die früher vorwiegende „Lehrmeinung: Wegen einer möglichen Verunsicherung und Überforderung des Kindes mit einer „fremden“ Zweitsprache bis zum abgeschlossenen Spracherwerb der Muttersprache im 4- 5 Lebensjahr zu warten, gilt heute als überholt.

Entscheidend ist für Kinder, in der frühen Spracherwerbszeit eine kontinuierliche, emotionale Beziehungsperson(en) als verlässliche Ansprechpartner: Eltern, Geschwister und Großeltern – und bereits schon sehr früh Nachbarkinder, Freunde in Krabbelstube, Spielplatz und Kindergarten zu finden. In unserer multikulturellen, globalisierten Gesellschaft lernen Kinder früh ihre Spielgefährten mit fremder, unbekannter Sprache kennen. Immer neugierig und spielerisch wird dann die Herausforderung der fremden Sprache zum Spaß. Kinder lernen allermeist schnell und vorurteilslos.

Jede Sprache entsteht immer in einem spezifischen Kulturkreis, der durch viele konkrete und hochemotionale Eigenarten gekennzeichnet ist. Diese gilt es zu erkennen, positiv zu übermitteln und zu respektieren damit die individuelle Herkunft und Familiengeschichte nicht verloren geht. Eine gemeinsame Sprache ist - angesichts weltweiter Flüchtlingsdramen - ein unverzichtbares und vorrangig wertvolles Instrument einer gelungenen Integration. Zum Spracherwerb gehört langfristig unverzichtbar auch der Erwerb der Schriftsprache.

Tipps für Eltern zur Mehrsprachigkeit ihrer Kinder

- innerhalb der Familie sollte es für alle Erwachsenen eine feste

Sprachvereinbarung geben - wer spricht welche Sprache?

Kinder identifizieren Personen (auch) mit ihrer Sprache

- bei der direkten Ansprache des Kindes keine verschiedenen Sprachen benutzen. Kommunikation und emotionale Identifikation sind eine Einheit; gerade in der Öffentlichkeit (Kita oder beim Einkaufen)

sich vor dem Kind zur eigenen Sprache bekennen

  • Sprache durch Geselligkeitsrituale pflegen: Fingerspiele, Lieder, Spiele aller Art, Reime, Bilderbücher, Puzzle, aktiv Vorlesen . . .

    ‑ dem Kind beim Reden und Lernen Zeit lassen, viel Zuwendung

    schenken, nicht unnötig unterbrechen oder korrigieren, dies führt zu Unsicherheit, verdorbenem Spaß, oft Schweigen als Rückzug

    - Fernsehen/Computer und Video ohne begleitende Gespräche

    vermitteln kein rechtes Sprachverständnis!

    - der Kontakt mit der „fremden“ Zweitsprache muss auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebenen so oft wie möglich gezielt gesucht

    und ständig gepflegt werden

    - Erwachsene sollten diejenige Sprache, die ihr Kind spontan spricht, akzeptieren. Abwertende oder gar abfällige Bemerkungen über die fremde Sprache oder Sitten zerstören schnell den Lernprozess

    Fremde Sprachen lernt man nie „auf Kosten“, sondern immer „mit Hilfe“ anderer Sprachen

    Wissenswertes über Auffälligkeiten beim Spracherwerb

    Lernen Kinder mehrere Sprachen gleichzeitig oder hintereinander fallen nicht selten „Besonderheiten“ auf, die man kennen sollte, um sie richtig beurteilen zu können. Asynchronizität bedeutet, dass eine Sprache schneller als die andere erlernt wird. Das ist vergleichbar mit zeitlich unterschiedlichen Entwicklungsphasen in anderen Fähigkeiten wie Greifen oder Laufen – und harmlos.

    Metasprachliche Fähigkeit meint, dass kleine Kinder schon sehr früh wissen, dass sie verschiedene Sprachen sprechen und dies durchaus genießen.

    Ein Erlebnis, über dass wir Erwachsenen uns freuen dürfen

    Interferenzen sind „Mischäußerungen“: Wörter und Grammatik werden „durcheinander“ geworfen . . . bitte keine ständigen Korrekturen. Humor hilft eher die Situation, zumal nicht selten urige Sprachgebilde zum Schmunzeln reizen. Eine Behandlung ist schon wegen der meist nur kurzzeitigen Sprachmischmaschakrobatik überflüssig. Freude an der gemeinsamen Kommunikation und Partizipation am spannenden Leben ist die Hauptmotivation für jeden Spracherwerb.

    Wann brauche ich professionelle Hilfe bei Sprech-Sprachstörungen?

    Ganz anders ist die Situation, wenn Kinder in ihrer Entwicklung permanente Sprach- und/oder Sprechauffälligkeiten zeigen. Diese müssen unverzüglich durch Pädiater, Hals-Nasen-Ohrenarzt und Pädaudiologe (Spezialist für Gehör und Sprache) diagnostisch abgeklärt werden. Ein gesundes Hörorgan, Sprachwerkzeuge und auditive Verarbeitung im Gehirn ist die Voraussetzung jeden normalen Spracherwerbs. Daher wird in Deutschland bei jedem Neugeborenen bereits in den ersten Lebenstagen ein orientierendes Hörscreening durchgeführt!

    Eine Sprachentwicklungsverzögerung (SEV) liegt dann vor, wenn die normierte Zeitspanne für bestimmte Sprachäußerungen – Lallen, Einzelwörter, Satzbildung – deutlich überschritten wird. „Late Talker“ sind – oft mit familiärer Veranlagung - sprachliche „Spätzünder“. Diese Kinder sprechen wenig oder kaum, was die familiäre Situation recht erheblich belastet - verstehen aber alles. Diese Verhaltenseigenart ist bis zu einem Alter von etwa 3 Jahren nicht behandlungsbedürftig, sofern handfeste Erkrankungen ausgeschlossen sind. Neben liebevoller, emotional verständiger, kontinuierlicher Förderung und Anleitung auch in der Kita ist eine Fachberatung der Eltern durch Logopäden jedoch durchaus hilfreich. Sofortige Abhilfe im Umfeld eines Kindes ist dringend angeraten, wenn die Entwicklungsverzögerung – unabhängig von Ein- oder Mehrsprachigkeit - die Folge familiär schlechter Sprachvorbildern mit gleichzeitig defizitärer Förderung oder gar Teil einer Kindesvernachlässigung oder -misshandlung ist. Empathische Aufmerksamkeit und Verantwortungsbewusstsein aller Erwachsenen im Umfeld des Kindes sind hier gefordert: Verwandte, Nachbarn, Erzieherinnen ...

    Dagegen ist eine Sprachentwicklungsstörung(SES), die etwa 15 -20 % aller Kinder betrifft und vollkommen unabhängig vom Herkunftsland, Migrations-hintergrund oder einer Familiensituation mit Mehrsprachigkeit auftritt, als medizinische Leistung immer therapiebedürftig. Sprachstörungen aller Art treten sehr häufig als Teil einer Gesamtentwicklungsstörung z.B. bei Morbus Down oder Autismusspektrumstörungen auf und bedürfen komplexer, interdisziplinärer Diagnostik und meist langwieriger vielseitiger Therapie.

    In Europa spricht die Hälfte der Einwohner mindestens zwei Sprachen

    weltweit sind es geschätzte 70 % aller Menschen. Mehrsprachigkeit ist daher fast schon eine Selbstverständlichkeit, sie ist immer ein Gewinn und muss daher „von Kindesbeinen an“ gezielt gefördert werden: von den Eltern, in Kita und Schule, durch eine tolerante Gesellschaft und nicht zuletzt seitens der Politik durch viel mehr öffentliche Akzeptanz und dem nötigen Geld.

    Weiterführende Hilfen

    Chilla, S.Fox-Boyer: „Mehrsprachigkeit –ein Ratgeber für Eltern“ Schulz –Kirchner Verlag

    Tracy R. „Wie Kinder Sprachen lernen und wir sie unterstützen können“ Franke Verlag Tüb.

    Deutscher Bundesverband für Logopädie e.V. „kalbheim@dbl-ev.de

    www.mehrsprachig vorlesen.verband-binationaler.de

    Empfehlenswerte Broschüre „In vielen Sprachen zu Hause“ Tel. 02289090411

Über den Autor

Dr. med. Josef Geisz
Dr. med. Josef Geisz
Kinder-Jugendarzt/Allergologie, Wetzlar

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