Entwicklungsrisiken für Kinder und Jugendliche
Faszinierend schillernde „Digitale Welt“
Unsere Kinder wachsen gleichzeitig in realen und virtuellen Welten auf und sie lieben die neuen Medien - ein „Rückwärts zu alten Zeiten“ wird es nicht geben. Die Vielfalt neuer Information- und Kommunikationstechnik ist fest etablierter Bestandteil modernen Lebens, auch für die „Kleinen“, die bereits als Baby zu Hause, bei Freunden, in der Kita und Schule damit groß werden. Neue Technologien hatten schon immer gute und gefährliche Seiten. Seriöse Studien zeigen, wie tiefgreifend ein unkontrollierter Medienkonsum die psycho-motorisch–soziale Entwicklung unserer Schutzbefohlenen gefährden kann.
Wie verbreitet sind die neuen Medienkonsum?
Der „Globale Digital Report 2018“ zählt weltweit mehr als 4 Milliarden Menschen, die Fernsehen, Computer/Video, Internet mit Smart Phone samt Apps/Spiele und soziale Foren regelmäßig nutzen. Repräsentative Studien belegen für alle Altersklassen eine hohe Medienaffinität mit beängstigend langen Nutzungszeiten: Im Schnitt 6 Std. am Tag.
1,5 Milliarden Euro setzte die Branche in Deutschland allein im ersten Halbjahr 2018 um. Ständige technische und inhaltliche Innovationen (Touchscreen, Körperbedienung, Spracheingabe) senken das „Einstiegsalters“ vom Vorschul- zum Kleinkind. Jede Altersgruppe wird von der Computerindustrie kommerziell voll bedient, deren Kommentar zu Risiken: „Medienspiele sind gefahrlos und werden vernünftig genossen... “
Drei zentrale sozialpädiatrische Entwicklungsfelder sind durch ungehemmten
Medienkonsum ernsthaft bedroht:
Spielen – Liebe/Zärtlichkeit/Sexualität - soziale Kommunikation
Risiko: Computerspielsucht „gaming disorder“
Exzessives Medienspielen beeinträchtigt die altersgemäße motorische, sprachliche und sozial emotionale Kompetenz. Schulische Aktivitäten werden ebenso vernachlässigt wie Hobbys, Sport, Familienbande oder Freundschaften. Zusätzlich treten auf Dauer körperliche Probleme wie Schlafstörungen mit Tag/Nachtumkehr, einseitige Fastfood Ernährung mit Übergewicht oder Vernachlässigung der Hygiene auf. Ärzte und Psychologen beobachten zunehmend psychische Symptome wie Angst, Depression bis zur erhöhten Selbstmordgefährdung in sozialer Isolation. Vorerkrankungen: ADHS, Autismus–Spektrum-Störungen oder Anfallsleiden, Gemütsstörungen können die Spielsucht verstärken. Gewalttätige Computerspiele stehen ganz zweifellos im Zusammenhang mit eigenem aggressivem Verhalten, emotionaler Abstumpfung und abnehmender Hilfsbereitschaft bei Gewaltsituationen im täglichen Leben.
Seit 2018 ist Internetspielsucht offiziell eine eigenständige Krankheitseinheit, anerkannt als online oder offline, digitaler oder Videoaktivität mit typischen Merkmalen: Beeinträchtigung der Selbstkontrolle - Spielintensität im sozialen Kontext, gestörte Impulskontrolle Priorisierung - das Spiel hat Vorrang vor allem und allen und Spielfortsetzung trotz erkannt negativer Folgen im persönlichen Umfeld.
Ursache der Spielsucht ist meist ein komplexes Zusammenspiel zwischen internen und externen Faktoren. Strukturelle Gehirndefekte, Persönlichkeitsmerkmale, geringes Selbstwertgefühl, mangelnde Selbstkontrolle, psychische Störungen, ADHS einerseits, soziale Faktoren wie schlechte Elternbeziehung als Vorbild und Kontrollinstanz, schlechter Umgang in der Peer Group, Gewalterleben, eine dem Entwicklungsalter unangemessene Dauer-verfügbarkeit unzähliger Angebote der Spiele Industrie andererseits unterhalten und verstärken das Zwangsverhalten.
Was kann man präventiv tun?
Medienkontakte vor dem 18 Monat möglichst vollständig meiden, bis 3 Jahre nur im Beisein einer Bezugsperson, keine Verwendung als Ablenkung oder Babysitter. Im Vorschulalter höchstens 1 Stunde/Tag für pädagogisch wertvolle Angebote, in der Kita als Ergänzung zur Wirklichkeit in Sprache und Spiel durch menschlich empathische Betreuer. Von TeleTubby lernt kein Kind Sprechen. Ab 5 Jahre grundsätzlich konsequente zeitliche Begrenzung. Medienkonsum generell nicht zu Schlafzeiten, keine Bildschirme im Schlafzimmer, nicht fernsehen oder “ daddeln“ während der Mahlzeiten oder bei Lern/Hausaufgaben – Ausnahme bei schulischer Anforderung: „Im Hintergrund laufende“ Medien stören jede Konzentration. Offizielle Packungshinweise auf Altersbegrenzung oder erforderliches elterliches Einverständnis ernst nehmen. Den „Mediennutzungsplan“ mit klaren und nachvollziehbaren Regeln gemeinsam aufstellen, wobei Eltern auch den eigenen Medienkonsum vorbildhaft reduzieren sollten.
Therapie: Da die Einsichtfähigkeit spielsüchtiger Kinder und Jugendlicher eher gering ist, sind meist ambulante, spezifische verhaltenstherapeutische Methoden in Einzel- oder Gruppentherapie durch Experten wie (Schul) Psychologen, Kinderpsychiater oder auch in „Peerhilfe“ Gleichaltriger ebenso angezeigt, wie soziale Stützung durch das Jugend/Sozialamt. Das beschädigte Selbstwertgefühl des Spielsüchtigen muss durch positive Erlebnisse, neue Freizeitaktivitäten und neue Freundschaften über lange Zeit in seiner sozialen Umwelt gestärkt werden.
Risiko: Lebensbereich Liebe –Zärtlichkeit - Sexualität
Der meist genutzte Suchbegriff im Internet lautet Sex. 10 % der Eltern gaben an, dass ihre Kinder bereits Erfahrungen mit „problematischen Inhalten“ gemacht haben. 11% der 6-13-Jährigen bejahten dies, dabei standen unangemessene Gewalt sowie sexuelle und porno-grafische Angebote im Vordergrund. Online-Sexsucht ist stark Jungen lastig, sie birgt ein hohes Suchtpotential mit zeitlich aufwendiger Internetaktivität. Sie hat eine unrealistische, kaum steuerbare Einstellung zu wirklicher Sexualität und Liebe zur Folge. So kann eine zukünftige echte Intimität blockiert werden. Neben der Suche nach Sensation ist Pornographie oft korreliert mit „Sexting“: Austausch sexueller Inhalte wie Texte, Bilder oder Filme untereinander oder in sozialen Medien. Da gerade pubertierende Jugendliche oft naiv und erlebnishungrig ihren Mitmenschen entgegentreten, besteht jederzeit die Gefahr einer seelischen und körperlichen Verletzung durch leichtsinnige Kontaktaufnahme und sehr persönliche Informationsweitergabe an Unbekannte mit sexueller Missbrauchsabsicht. Viele Opfer leiden verzweifelt und hilflos unter “Cyber-Grooming (Anmache)“ Das Internet vergisst nichts und staatliche Kontrollinstanzen sind in Deutschland/EU - geschweige denn weltweit - nicht in der Lage, Kinder- und Jugendschutz im Internet effektiv durch zu setzen. Es gibt zwar Altersbegrenzungen für Spiele oder Zustimmungspflicht der Eltern, aber keinerlei wirksame Kontrollen! Daher ist eine frühzeitige, kontinuierliche, vorbehaltlose Aufklärung durch Eltern, Schule, Sportverein, Ausbildungsstätte, Kirche auch Pädiater (Vorsorgeuntersuchungen U10, J1 und J2) unverzichtbar.
Medienrisiko: Soziale Kommunikation
Soziale Medien wie Whats App, Facebook, Instagram, Twitter, Snapchat, Tic-Toc u.a. ermöglichen jedermann, jederzeit Texte, Fotos oder Videos von sich blitzschnell weltweit zu verbreiten. 89 % der 12 -19-Jährigen waren 2017 täglich ca. 3 Std. online. Sie geben zwar an, mit Apps und in Communities viel Zeit zu verschwenden, ändern ihr zwanghaftes Verhalten jedoch nicht, um ja nichts zu verpassen „FOMO = Fear Of Missing Out“. So bin ich, so will ich gesehen werden! Private Lebensbereiche werden zur Selbstinszenierung: Man ist „Blogger“ „Influencer“ und hat „Follower“ und „Likes“. Sei es das Essverhalten mit Adipositas bis zur Anorexie, Schönheitsideal mit „Posing“, Tätowierung, Piercing oder Selbstverletzungen, Haustiere alles wird ungehemmt kommuniziert, das Selbstbewusstsein steigt. Eine weltweit konsensurierte juristische Regelung für „Löschen einer Nachricht“ ist nur sehr ansatzweise in Sicht. „Cybermobbing - „Bullying“ ist die meist anonyme, wiederholte Aggression mit digitalen Medien mit dem Ziel bewusst zu verletzen, bedrohen, demütigen oder einzuschüchtern. Betroffen sind davon 25% der Schüler. Die Folgen sind für die Opfer schwere körperliche und emotionale Belastung, hoher Stress sowie soziale Integrationsprobleme mit Depression, Angst, Schamgefühl, Leistungs- und Schlafprobleme.
Als Hilfe hat sich ein Monitoring Gleichaltriger als Vorbild und zur Stärkung des Selbstwertgefühles bewährt. Betroffene und deren Eltern sollen umgehend professionellen Rat und Beistand suchen. Ein Gesetz gegen Cyberbullying gibt es in Deutschland nicht, doch sind Beleidigung, Bedrohung oder Verbreitung entwürdigender Bilder gegen den Willen der Betroffenen strafbar und sollten unverzüglich bei der Polizei angezeigt werden, damit die Täter zur Rechenschaft gezogen und weitere Straftaten vermieden werden.
Ausblick: Die Digitalisierung unserer Gesellschaft mit internationaler Vernetzung ist nicht auf zu halten – im Gegenteil, sie nimmt exponential zu. Wir Erwachsenen sind aufgefordert, unsere Kinder und Jugendliche einen souveränen, individuellen Umgang mit der sowohl viele Lebensbereiche zweifellos bereichernden aber auch verführerisch verlockenden Medienwelt zu ermöglichen. Eine altersangepasste Medienkompetenz müsste zum Schulfach werden.
Warnungen und Hilfsangebote z.B. der Kinder- und Jugendmediziner, Psychiater und Pädagogen, Schulpsychologen sowie Beratungsstellen bei staatlichen und privaten Stellen z.B. Kinderschutzbund sollen frühzeitig wahr– und angenommen werden.
Weitere Infos:
www. gutes-aufwachsen-mit-medien.de
Polizei: AGGAS „Gegen Gewalt an der Schule“
Selbstschutzplattform: www.juuuport.de
Regionaler Kinderschutzbund oder Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA)
Über den Autor
Kinder-Jugendarzt/Allergologie, Wetzlar