Das Schneeglöckchen –
Heil- oder Giftpflanze?
Mancherorts blühen sie noch, kleine Büschel weißer Schneeglöckchen, die in vielen Gärten bereits im Februar ihre Blüten aus dem Boden schieben. Jeder kennt sie und freut sich ihres Anblicks, kündigen sie doch den nahenden Frühling an.
Das Schneeglöckchen ist eine ausdauernde Zwiebelpflanze mit zwei schmalen, linealischen Blättern. Die Stengel tragen meist nur eine Blüte, die aus drei größeren und drei kleineren, weißen Blütenblättern bestehen, die 6 Staubblätter umschließen. Es gibt rund 10 verschiedene Arten, die botanisch in der Gattung „Galanthus“ zusammengefasst sind. Unser heimisches Schneeglöckchen heißt lateinisch „Galanthus nivalis“, ein Name, der sich aus den griechischen Worten „gála“, Milch, und „ánthos“, Blume, sowie dem lateinischen „nix“ (im Genitiv „nivis“), Schnee, herleiten lässt. Es ist in ganz Mitteleuropa verbreitet, im Süden bis zum Mittelmeer, im Osten bis zum Kaspischen Meer, und findet sich bei uns auch häufig als Gartenpflanze.
Schaut man in die gängigen Heilpflanzenbücher, findet man das Schneeglöckchen jedoch nicht; als Heilpflanze wird es nicht verwendet, obwohl es Lieferant eines wichtigen Arzneistoffes ist, der aus den Zwiebeln der Pflanze gewonnen werden kann. Im Giftpflanzenbuch hingegen wird man fündig: Nach Verzehr von Schneeglöckchenblüten oder -zwiebeln kommt es zu Übelkeit, Erbrechen und Durchfall; auch eine Verengung der Pupillen kann auftreten. Als Erste Hilfe führt man Erbrechen herbei und gibt Kohlepulver zur Adsorption verbliebenen Giftstoffes. Die toxischen Inhaltsstoffe sind Alkaloide, die in allen Teilen der Pflanze vorkommen, und einen Gehalt von bis zu 1,5 % bezogen auf das Trockengewicht erreichen können. Die Pflanze bildet diese Alkaloide ausgehend von der Aminosäure Tyrosin. Die pharmazeutisch bedeutsamste Substanz ist das Galanthamin, chemisch betrachtet ein Benzazepinderivat, da der Stickstoff des Tyrosins cyclisch in einen Siebenring eingebunden ist. Galanthamin hat sich in den zurückliegenden drei Jahrzehnten zu einem wichtigen Arzneistoff entwickelt. Zunächst wurde der Wirkstoff bei Myasthenia gravis eingesetzt, einer Muskelschwäche, bei der die Reizübertragung zwischen Nerv und Muskel gestört ist. Einfach erklärt, wirkt Galanthamin bei der Reizübertragung so, dass es die Rezeptoren gegenüber dem Botenstoff Acetylcholin (ACh) leichter erregbar macht (Modulation nikotinischer ACh-Rezeptoren). Weiterhin wirkt es als reversibler Cholinesterasehemmer und sorgt so für höhere Acetylcholinkonzentrationen im synaptischen Spalt. Galanthamin kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden und wurde 1996 erstmals in Japan zur symptomatischen Behandlung der Alzheimer-Erkrankung zugelassen, einer Form der Demenz, bei der die synaptische Neurotransmission gestört ist. Leider kann es - wie alle anderen Antidementiva auch - lediglich das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen, sie aber letztendlich nicht verhindern. Darüber hinaus wird mittlerweile eine kardioprotektive Wirkung diskutiert, da man festgestellte, dass mit Galanthamin behandelte Demenz-Patienten seltener Herzinfarkte erleiden. Die weitere Forschung bleibt also spannend.
Als Laie müssen Sie diese komplexen Wirkungen nicht verstehen, sondern dürfen hier ihren Ärzten und Apothekern vertrauen. Aber vielleicht betrachten sie die Schneeglöckchen nächstens mit anderen Augen – und mit viel Respekt, denn wer hätte dem kleinen Pflänzchen zugetraut, dass es solch komplexen Arzneistoff herstellen kann.