Die Wegwarte – Heilpflanze des Jahres 2020

Seit Juli waren sie überall zu sehen, die leuchtend blauen Blüten der Wegwarte (Cichorium intybus L.), auch Wilde Zichorie genannt, Heilpflanze des Jahres 2020. Viele von Ihnen kennen sie, denn sie ist eine typische Ruderalpflanze, die oft an Weg- oder Ackerrändern, Bahndämmen, Mauern und Schuttplätzen anzutreffen ist, meist in Gesellschaft von Knöterichen, Wilder Möhre und Ampferarten. Auch an diesen oft trockenen, kargen Standorten kann sie sich dank einer tiefen Pfahlwurzel halten und mit Wasser und Nährstoffen versorgen. Ihre Blüten öffnet die Pflanze schon früh am Morgen und nur für einen Tag; nachmittags ist dann die Pracht vorbei und der nächste Tag bringt neue Blüten. Die Wegwarte (wie auch der Löwenzahn) gehört in der Familie der Asteraceen (Körbchenblütler) zur Unterfamilie der Zungenblütler (Cichorioideae, Liguliflorae) und führt Milchsaft. Sie kann mehr als 1,5 m hoch werden und wächst sparrig-verzweigt. Die reichblütigen Stengel sind oft borstig behaart, steif und schwer abzupflücken. Die Wurzel kann bis zu 30 cm tief in den Boden gehen und ist neben dem Kraut der arzneilich verwendete Teil der Pflanze.

Als Heilpflanze ist die Wegwarte eher in Vergessenheit geraten. Verwendet werden die getrockneten Wurzeln, seltener das getrocknete Kraut oder ein Gemisch aus Kraut und Wurzeln. Neuere fundierte wissenschaftliche Studien fehlen, die volkstümliche Anwendung beruht wohl ganz wesentlich auf dem Bitterstoffgehalt. So wird die plausible Verwendung als Magenmittel zur Appetitanregung, zur Unterstützung der Verdauung, gegen Blähungen und bei dyspeptischen Beschwerden beschrieben. Bei den bitteren Inhaltsstoffen handelt es sich um Sesquiterpenlactone mit Guajan-, Eudesman- und Germacran-Grundgerüst. Am bedeutsamsten sind wohl die sehr bitteren Guajanolide Lactucin, 8-Desoxylactucin und Lactucopikrin. Die Bitterstoffe finden sich in allen Teile der Pflanze, im Milchsaft jedoch in besonders hoher Konzentration. Natürlich produziert die Wegwarte diese Stoffe nicht, um dem Menschen Magenbeschwerden zu lindern. Vielmehr liegt ihre biochemisch-ökologische Funktion darin, daß sie aufgrund ihrer Bitterkeit für die Pflanze einen Fraßschutz darstellen und die Wegwarte dadurch von Insekten wie auch von Säugetieren und anderen Herbivoren verschmäht wird. Die Pflanze schmeckt den Fraßfeinden nicht und den Insekten verklebt der Milchsaft zusätzlich die Beißwerkzeuge. Interessanterweise zeigen die bitteren Substanzen auch Wirkung gegen den Malariaerreger Plasmodium falciparum.

 

Viel bekannter als die arzneiliche Anwendung dürfte die Verwendung der Wurzeln als Kaffeeersatz sein. Schon Ende des 17. Jahrhunderts wurde nach Ersatzstoffen für den teuren Bohnenkaffee gesucht und auch in den folgenden Jahrhunderten griff man immer wieder auf Zichorienwurzel und Getreide (Gerte, Roggen, Dinkel) zurück, um billigen „Ersatzkaffee“ herzustellen. Auch Malz- oder Eichelkaffee dienten als Ersatz für Bohnenkaffee, insbesondere in Kriegszeiten. Zichorienwurzeln wurden getrocknet, geröstet und gemahlen; durch Überbrühen erhielt man „Muckefuck“, möglicherweise eine Verballhornung des französischen „mocca faux“ („falscher Mokka“) aus der Zeit der napoleonischen Besatzung in Deutschland. Auch „Caro-Kaffee“, noch heute im Supermarktregal zu finden, enthält Zichorienwurzel und ist natürlich – wie alle genannten „Ersatzkaffees“ – koffeinfrei.

Als Salatpflanzen wohlbekannt sind Ihnen sicherlich Chicorée und Endivie. Chicorée wie auch Radicchio rosso stammen von der Wegwarten-Varietät Cichorium intybus var. foliosum HEGI. Man schlägt die Wurzelrüben im Herbst in Sand ein und deckt sie ab. Aus den Blattachseln wachsen über den Winter bis zu 20 cm lange dicke, feste, durch den Lichtentzug fast weiße Knospen aus, die als Salat gegessen werden. Auch die Bitterstoffproduktion ist im Dunkeln deutlich reduziert. Stammpflanze der Endivie ist die eng verwandte Art Cichorium endivia L. Beide Salatsorten schmecken leicht bitter, wofür gleiche oder ganz ähnliche Inhaltsstoffe verantwortlich sind wie in der Wegwarte.

Über den Autor

Dr. Karl-Heinrich Horz
Dr. Karl-Heinrich Horz
Apotheker

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