Keine Angst vorm ABC

Legasthenie und wie man ihr begegnen kann

Vor ein paar Wochen war es wieder so weit: Zahllose Schultüten wurden gepackt und viele Kinder freuten sich auf ihren ersten Tag an der Schule. Endlich können sie die Geheimnisse der Buchstaben kennenlernen, sich nicht nur vorlesen lassen, sondern selbst anfangen zu lesen - ein großer Schritt für kleine Menschen. Doch nicht allen fällt es gleich leicht, die Buchstaben zu entwirren. 4 % aller Schülerinnen und Schüler, so vermutet der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, sind von einer Legasthenie betroffen.

Ob nun eine genetische Veranlagung zugrunde liegt oder die Kinder durch falsches Hören oder Sehen Probleme bei der Verarbeitung von Sprache haben, das Ergebnis ist dasselbe: Es fällt ihnen schwerer als anderen, das, was sie hören, auch aufzuschreiben. Wenn Kinder merken, dass sie hier größere Probleme haben als ihre Mitschüler, fühlen sie sich verunsichert, manchmal dumm. Das so schwindende Selbstwertgefühl wirkt sich auf andere Fächer aus, die sich auftuende Wissenskluft zu den anderen Kindern wird unaufhaltsam größer. Rahel Messerli erzählt in ihrer Graphic Novel „Melin. Leben mit Legasthenie und wie man damit umgeht“ (Luftschacht 2019) von einem betroffenen Mädchen, das sich aus Scham und Verunsicherung immer weiter zurückzieht, bis endlich jemand kommt und ihr von LRS erzählt. LRS bedeutet Lese-Rechtschreib-Störung oder Legasthenie - und das hat überhaupt nichts mit Intelligenz zu tun, erklärt der hinzugezogene Experte und hilft Melin damit, einen ersten Schritt in Richtung Selbstwertgefühl zu unternehmen. In einem besonderen Förderprogramm erfährt Melin, wie sie ihrem Problem begegnen kann. Stressabbau, Minderung von Leistungsdruck, spielerisches Herangehen an Sprache - all diese Faktoren helfen ihr, wieder Freude am Lesen zu entwickeln. Richtig wichtig aber ist für sie, dass sie mit LRS nicht alleine ist. Sie lernt von anderen, mit welchen Tricks man gut zurechtkommen kann. Besonders aber lernt sie, dass kein Mensch allein aufgrund dieser einen Schwäche schlechter ist als ein anderer - jeder hat eine besondere Begabung, die bisweilen sogar mit LRS zusammenhängt. Aus der Schwäche entwickeln sich Stärken - Menschen mit LRS können aufmerksamer sein, vielleicht besser zuhören, sind kreativ und phantasivoll. Sie gleichen das, was sie nicht können, mit anderen Fähigkeiten aus. Rahel Messerli hat mit „Melin“ ein ganz besonderes Buch geschaffen! Es hilft zu verstehen und ist dabei eine perfekte Mischung aus (einfachem) Fachbuch und Biographie. Es weckt das Bewusstsein für LRS und geht dabei so wertschätzend und ermutigend mit der kleinen Buchheldin um, dass man selbst gestärkt aus der Lektüre hervorgeht. Dass Messerli dabei kaum Text verwendet, sondern viel mit Bildern und Farben arbeitet, zeigt ihre hohe Sensibilität für das Thema. Ein Buch, das in jeder Klassenbibliothek stehen und wirklich viele Kinder und deren Eltern erreichen sollte!

Freude am ABC und am Laute-Lernen vermittelt Ann Cathrin Raabs Pappbilderbuch „Karacho, Muh, Juhu!“ (Peter Hammer 2019). Hier können ABC-Neulinge mit viel Spaß eine Geschichte entdecken, die dem ABC folgt und dabei allein aus Lauten besteht. Aaah, da treffen sich welche und Brumm, rollt das Auto. Crrrr macht es, als es einen Kratzer bekommt und „DA!“ ruft der Bär, als er den Schuldigen erblickt. Auf jeder der minimalistisch gestalteten Doppelseiten passt irgendwie alles zu den Buchstaben, um die es gerade geht, so dass die Reise durch das ABC-Buch zur verheißungsvollen Wörter-Schatzjagd wird. Großartig gemacht!

 

Wem das Lesen jedoch schon leichter fällt und wer Spaß an Sprache und Buchstaben hat, kann sich auf Ina Hattenhauers „Das ausgelassene ABC“ (Gerstenberg 2019) freuen: Hier geht es nicht nur um das ABC, sondern vielmehr darum, was mit Wörtern passiert, wenn man bestimmte Buchstaben weglässt. Ganz schnell wird so der Comic-Laden ohne C zum Omiladen, und auch als versierte*r Leser*in muss man manchmal ganz genau hingucken, um zu verstehen, was da passiert ist. Frau Meier will ans Meer? Ach so, naja klar, ganz ohne i! Und deshalb spielt die Leselotte (statt Lieselotte) auch mit der Katze Mau Mau (miau!). Ein großer Spaß für kleine und große ABC-Helden, detailreich und Phantasievoll illustriert, so dass auch die Nicht-Leser in den bunten, wimmeligen Bildern hier sehr schön auf ihre Kosten kommen können. Toll!

 

 

Viele der in dieser Rubrik vorgestellten Bilderbücher werden von der AG Bücher für Vorleser des Wetzlarer Projekts „Vorlesen in Familien“ empfohlen. Die besten Titel werden den ehrenamtlichen Vorlesern zur Verfügung gestellt, die regelmäßig mit Bilderbüchern in die ihnen zugeteilte Familien gehen und letztlich nicht nur ihr Vorlesekind, sondern die ganze Familie unterstützen.

Nähere Informationen zur Ausbildung zum Vorleser und zum Projekt selbst finden sich auf der Homepage

Über den Autor

Maren Bonacker
Maren Bonacker
Lese- und Literaturpädagogin
Phantastische Bibliothek Wetzlar

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Aktuelle Ausgabe1/2024