Benzodiazepine und andere Psychopharmaka
Teil 4 –
Eindrucksvolle aber auch abschreckende Fallberichte
Missbrauch
Benzodiazepine waren bis vor kurzem die „Mittel der Wahl“ bei der Betäubung von meist ahnungslosen Opfern. Sie wurden inzwischen allerdings durch Gammahydroxybutansäure (Gammahydroxybuttersäure, „Liquid Ecstasy“, GHB) fast völlig verdrängt.
Vor einiger Zeit berichtete DER SPIEGEL über eine besonders „exotische“ Beibringung von K.o.-Mitteln. In dem Beitrag „Prostituierte betäuben und berauben Sextouristen mit K.o.-Tropfen, Schlaftabletten und Gift auf den Brustwarzen“ werden einige kriminelle Praktiken offengelegt: Um ihre „Kunden“ außer Gefecht zu setzen, hatten sich Prostituierte Betäubungsmittel (meist Flunitrazepam und Triazolam) auf die Brustwarzen appliziert. Aus Angst vor Spott verschwiegen viele Männer ihr „Missgeschick“. Die wieder zu Sinnen gekommenen Sextouristen hatten jedoch noch Glück, denn das „Vorspiel“ hätte auch tödlich enden können. In neuem Licht erscheine daher die hohe Zahl von Touristen, die in Thailand einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Allein bei 13 von 49 Amerikanern, Europäern und Asiaten, die in dem bekannten thailändischen Seebad und Touristenort Pattaya ihr Leben ließen, trugen Ärzte als Todesursache „Herzversagen“ in den Totenschein ein. Westlichen Diplomaten in Bangkok komme die notorische Herzschwäche der Besucher schon lange seltsam vor. Viele der Opfer wurden allein in ihrem Hotelzimmer aufgefunden – möglicherweise nach dem Besuch einer Prostituierten. Allein in einem Jahr sollen angeblich 130 deutsche Touristen in Thailand verstorben sein. Dabei seien „vergiftete Brustwarzen“ nicht die einzige Waffe. Häufiger werden K.o.-Mittel in den Drink gemixt oder dem Opfer beim Kuss mit der Zunge eine Schlaftablette in den Mund geschoben. Dies erfordere nicht nur eine hohe Kunstfertigkeit der Prostituierten, sondern auch ein betörtes „Freierhirn“. Wenn ihr Kunde sich über die Tablette wunderte, so das Geständnis einer Prostituierten, habe sie ihm einfach weisgemacht, das Medikament werde seine Potenz fördern – und schon habe ihm der Verstand versagt.
Die bereits von Sternbach anlässlich seines Selbstversuchs beobachtete Muskelerschlaffung (Relaxation) und ausgeprägte Schläfrigkeit spielt auch im folgenden Fall aus dem Einzugsbereich der Rechtsmedizin Gießen eine Rolle: Eine inzwischen 24 Jahre alte Frau erstattete Anzeige: Sie sei mit 13 Jahren von einem Vereinskameraden mit einem K.o.-Mittel (vermutlich Flunitrazepam) betäubt und anschließend vergewaltigt worden. Sie könne sich noch daran erinnern, dass sie eine bitter schmeckende Flüssigkeit aus einem Glas getrunken habe, das ihr anschließend aus der Hand gefallen sei. Schließlich sei ihr „schummrig” geworden, und sie sei nach hinten gesackt. Sie habe sich kraftlos gefühlt und weder richtig sprechen, noch Arme und Beine bewegen können. Der Angeklagte habe sie aufgehoben, ins Schlafzimmer getragen und auf ein Bett gelegt. Sie habe versucht, sich zu wehren, aber das sei nicht gegangen. An die sich anschließende Vergewaltigung könne sie sich noch schemenhaft erinnern. Der Angeklagte bestritt die Tat. Ein analytischer Nachweis war nach zehn Jahren natürlich (trotz den Möglichkeiten der modernen Haaranalytik) nicht mehr möglich. Zwei psychiatrische Glaubwürdigkeitsgutachten kamen aber zu dem Ergebnis, dass das mutmaßliche Opfer die Wahrheit sagte. Das zweitinstanzliche Urteil lautete: dreijährige Freiheitsstrafe.
Aktuelle Entwicklung bei den sog. K.-o.-Mitteln.
Inzwischen werden aber kaum noch Benzodiazepine als sog. K.-o.-Mittel verwendet.
Vielmehr fällt der Substanz Liquid Ecstasy (GHB) diese unrühmliche Rolle zu.
Über diese Substanz wurde im Gesundheits Kompass bereits ausführlich berichtet.
Fazit: Bei aller Kritik, der die Benzodiazepine ausgesetzt sind, sollte nicht übersehen werden, dass sie wertvoll für Arzt und Patient sind. Man denke nur daran, wie früher Erregungszustände bei Epileptikern „behandelt“ wurden. Abbildung 8 ist eine „Lehrradierung“ von Picat aus dem 18. Jahrhundert zur Anleitung des Personals der berühmten Pariser „salpêtrière“. Sie zeigt, wie die Erregungszustände der Epileptikerin Gabrielle Muller mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln „gedämpft“ wurden.
Der Verfasser dieser vierteiligen Serie über Benzodiazepine würde niemals die zugegebenermaßen ketzerische Meinung “Valium hilft der Industrie, dem Patienten hilft es nie“ vertreten.
Andererseits sollten Benzodiazepine aber stets nur kontrolliert abgegeben und nicht so beworben werden, wie er dies auf Vortragsreisen in Asien beobachten konnte.
Aushang im Schaufenster einer Apotheke:
„Valium heute im Angebot besonders günstig (reasonable prices)“.
In einem drastischen Fall wurde Valium neben Aspirin, Coffein und Sildenafil (Viagra®) am Straßenrand in Bonbongläsern angeboten wobei natürlich fraglich ist, ob der Wirkstoff in den unkontrollierten Präparaten wirklich enthalten war.
Eine Frage zum Schluss dieser Serie
Am Ende dieser Beiträge über die Entwicklung der Benzodiazepine ist die Frage berechtigt und auch nachvollziehbar, warum die Entwicklung neuer Medikamente so zeitraubend und damit auch kostenintensiv ist?
Rund 5.000 bis 10.000 Substanzen müssen Forscher durchschnittlich untersuchen, um einen geeigneten Wirkstoff zu finden. Die Substanzen müssen den Zielort im Körper erreichen, an dem sie wirken sollen, ohne vorher abgebaut oder ausgeschieden zu werden, und sich mit Molekülen des Körpers oder eines Erregers verbinden. Und schließlich müssen sie vom Körper wieder abgebaut oder ausgeschieden werden können. Nur rund neun der bis zu 10.000 untersuchten Wirkstoffe kommen in die erste Phase der klinischen Studien, in denen Arzneimittel nach ihrer Verträglichkeit, Sicherheit sowie Wirksamkeit am Menschen überprüft werden. Nach weiteren Studien erreicht von diesen neun Wirkstoffen meist nur einer als Arzneimittel tatsächlich die Patienten. Durchschnittlich benötigen die Wissenschaftler der Pharmaforschung über 13 Jahre, um ein Arzneimittel zu entwickeln, das seine Wirksamkeit voll entfaltet und möglichst wenige Nebenwirkungen erzeugt. In dieser Zeit durchläuft der Prototyp mehrere Langzeitstudien sowohl an gesunden als auch an kranken Menschen. Die Entwicklungskosten für ein Medikament mit einem neuem Wirkstoff, das es zur Zulassung schafft, liegen zwischen 1 und 1,6 Milliarden US-Dollar. Ein Großteil nimmt die klinische Entwicklung ein, insbesondere die logistisch aufwändigen, multinationalen Phase-III-Studien.
Nach einer repräsentativen aktuellen Umfrage im Auftrag eines bedeutenden Biotechnologie-Unternehmens unterschätzen neun von zehn Deutschen die Dauer und 79 Prozent die Forschungs- und Entwicklungskosten für ein neues Medikament.
Wäre das nicht insbesondere bei den selteneren Erkrankungen, bei denen die Pharmaindustrie die gigantischen Forschungskosten häufig scheut, eine Aufgabe für staatliche Institutionen, sich maßgeblich zu beteiligen?
Dies gilt z. B. auch für die aktuell besonders intensiv diskutierte Erforschung und Entwicklung neuer Impfstoffe zur Therapie der Infektionsfälle mit dem neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2).
Abschließend noch Beispiel ein für einen Arzneimittelskandal, der sich in diesem Ausmaß hoffentlich niemals wiederholt (aus WIKIPEDIA).
Der Contergan-Skandal war einer der aufsehenerregendsten Arzneimittelskandale in der Bundesrepublik Deutschland und wurde in den Jahren 1961 und 1962 aufgedeckt.
Das millionenfach verkaufte Beruhigungsmedikament Contergan, das den Wirkstoff Thalidomid enthielt, konnte bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft Schädigungen in der Wachstumsentwicklung der Föten hervorrufen. Contergan half unter anderem auch gegen die typische morgendliche Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase und galt im Hinblick auf Nebenwirkungen als besonders sicher. Bis Ende der 1950er Jahre wurde es gezielt als rezeptfreies (!) Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen. Es wurde vom 1. Oktober 1957 bis zum 27. November 1961 vertrieben und aufgrund von möglichen Nebenwirkungen auf das Nervensystem ab dem 1. August 1961 rezeptpflichtig. Durch die Einnahme von Contergan kam es zu einer Häufung von schweren Fehlbildungen (Dysmelien) oder gar dem Fehlen (Amelie) von Gliedmaßen und Organen bei Neugeborenen. Dabei kamen weltweit etwa 5.000–10.000 geschädigte Kinder auf die Welt. Zudem kam es zu einer unbekannten Zahl von Totgeburten. Anfang 2016 gab der „Bundesverband Contergangeschädigter“ auf seiner Internetseite an, dass in Deutschland noch etwa 2.400 Contergan-Geschädigte leben.
1958 wurden Fehlbildungen bei Neugeborenen erstmals im Bundestag diskutiert. Damals wurde ein möglicher Zusammenhang mit Kernwaffentests vermutet. Die Häufung wurde jedoch zunächst aufgrund der in Westdeutschland nach der nationalsozialistischen Vergangenheit gelockerten Meldepflichten, mangelnder Koordination der staatlichen Stellen und der Forschung und weiterer Probleme bei der statistischen Erfassung nicht ernstgenommen. Erst Ende 1961 wurde der Zusammenhang zwischen Contergan und den Fehlbildungen erkannt und das Medikament vom Hersteller, der Grünenthal GmbH in Stolberg, vom Markt genommen. Westdeutschland richtete 1961 das Bundesministerium für Gesundheit auf Bundesebene ein. Der Skandal hatte weltweite Auswirkungen auf den Umgang mit Arzneimittelzulassungen. Er wurde mehrmals verfilmt und zur Grundlage verschiedener Bücher, Romane und Studien.
Über den Autor
Forensischer Toxikologe
Institut für Rechtsmedizin der Universität Gießen