Gesundheitliche Folgen des Lockdowns
Die von den Landesregierungen angeordneten Lockdowns ergänzen zahlreiche andere, per Verordnung verhängte Maßnahmen mit dem Ziel, die COVID-19 Fallzahlen zu senken. Der epidemiologische Erfolg von Lockdowns gilt jedoch in der Wissenschaft als umstritten. In einer großen internationalen Studie wurde untersucht, ob diese zusätzlichen Lockdowns in verschiedenen Ländern tatsächlich in der Lage sind, den Anstieg der Fallzahlen zu senken. Das Ergebnis war für die europäischen Länder ernüchternd, denn ein gesundheitlicher Nutzen im Sinne einer stärkeren Reduktion der Fallzahlen war nicht zu finden. Im Gegenteil: in Spanien nahm die Fallzahl während des Lockdowns sogar signifikant zu. Ein gesundheitlicher Nutzen durch Lockdowns ist deshalb zumindest umstritten.
Der Lockdown kann allerdings gravierende gesundheitliche Folgen für eine Vielzahl an Menschen haben. Nach und nach finden sich immer mehr Studienergebnisse in den medizinischen Fachzeitschriften. Teilweise sind es Fallbeschreibungen von einzelnen Patienten, teilweise sind es Ergebnisse von Befragungen der Menschen und teilweise Ergebnisse von Krankenhauseinweisungen, Todesursachen bzw. Krankheitsstadien. Dazu einige Beispiele.
Onkologie: Nach der bisher größten Untersuchung waren in Deutschland während des ersten Lockdowns 2020 etwa 10% bis 20% weniger Patienten in stationärer Krebsbehandlung. Die onkologische Nachsorge ging um 40% bis 70% zurück. Eine verspätete Diagnose und Behandlung können schwerwiegende Folgen für die Betroffenen nach sich ziehen. So wurde in Großbritannien berechnet, dass durch die verspätete Diagnose und Behandlung die Rate an Todesfällen bei Brustkrebs in 5 Jahren um 7,9% bis 9,6% steigen dürfte. Die zusätzlichen Todesraten für Dickdarmkrebs werden voraussichtlich um 15,3% bis 16,6% steigen, die für Lungenkrebs um 4,8% bis 5,3%, und die für Speiseröhrenkrebs um 5,8% bis 6,0%. Allein die verzögerte Diagnostik soll in Großbritannien im Durchschnitt jeden betroffenen Patienten zwischen 0 und 0,7 Lebensjahre kosten. Ob für die Patienten in Deutschland mit ähnlichen Folgen zu rechnen ist, ist derzeit unklar.
Herzinfarkt: Die Initiative Qualitätsmedizin führte eine Auswertung des 1. Halbjahrs 2020 im Vergleich zu 2019 durch und zeigte einen Rückgang von stationären Herzinfarktbehandlungen um 35%. Außerdem wurden weniger Katheter-Untersuchungen bei Patienten mit Herzinfarkt (-24,5%), bei Patienten ohne Herzinfarkt (-45,6%) und weniger Versorgungen mit einem Herzschrittmacher durchgeführt (-29,6%). Während des Lockdowns wurden in England und Wales bei Menschen ohne COVID-19 insgesamt 41% mehr Todesfälle im häuslichen Umfeld durch ein akutes Koronarsyndrom beobachtet. Die Rate an Todesfällen durch Herzinsuffizienz stieg um 33%. Der Lockdown-Slogan „zuhause bleiben“ wurde offenbar auch von zahlreichen schwer kranken Patienten umgesetzt.
Alkoholkonsum: Insbesondere in den Lockdown-Phasen ist der Konsum an Suchtmitteln in der Bevölkerung gestiegen. Für Deutschland wurde ermittelt, dass im ersten Lockdown 6,1% mehr alkoholische Getränke im Einzelhandel gekauft wurden. Das kann daran gelegen haben, dass Vorräte aufgestockt wurden oder mehr konsumiert wurde. Eine Umfrage zeigte ergänzend, dass 34,7% der 2.102 Befragten mehr oder deutlich mehr Alkohol während des Lockdowns zu sich nahmen.
Einsamkeit: Diese hat während des Lockdowns erheblich zugenommen. Ausgangssperren und Kontaktverbote verstärkten das Gefühl und Erleben von Einsamkeit. Besonders häufig sind alleinlebende Erwachsene, Geschiedene oder getrenntlebende Personen, Singles und Witwer betroffen. In den USA ging die stark gestiegene Einsamkeit bei jungen Menschen über Monate mit Depression und Selbstmordgedanken einher, insbesondere bei Menschen unter behördlicher Ausgangssperre. Auch ein erhöhter Konsum an Alkohol wurde durch Einsamkeit im Lockdown beschrieben.
Depression: Die mentale Gesundheit der Menschen leidet während des Lockdowns. Nach einer Meta-Analyse gaben 33,7% der befragten Menschen aus verschiedenen Ländern in den Pandemie-Monaten bis Mai 2020 an, unter Depression zu leiden. Neue internationale Daten zeigen, dass sich eine Depression je nach Land bei 14,6% bis 48,3% der Menschen finden ließ. In der Folge können mehr Menschen Selbsttötungswünsche haben. Aus Österreich wurde berichtet, dass 56% der Schüler im Lockdown unter einer depressiven Symptomatik leiden und 16% suizidale Gedanken haben.
Die Mehrzahl der Politiker und Medien hat den Fokus unverändert auf COVID-19. Auf der Bundespressekonferenz wurde teilweise davon gesprochen, dass man keinerlei Kenntnis von den negativen gesundheitlichen Folgen als Folge der politisch angeordneten Maßnahmen habe. Die zahlreichen Menschen, die unter den Folgen der Maßnahmen gesundheitlichen Schaden nehmen, der teilweise (wie in der Onkologie) irreversibel ist, haben keine tägliche Sondersendung und scheinen im toten Winkel zu sein. Deshalb ist es so wichtig, bei allen vom Staat angeordneten Maßnahmen den gesundheitlichen Nutzen zu kennen („Hilft die Maßnahme tatsächlich, COVID-19 Fälle zu verhindern?“), die gesundheitlichen Risiken zu kennen („Welche gesundheitlichen Risiken sind mit einer Maßnahme verbunden?“) und die gesundheitlichen Folgen für die gesamte Gesellschaft zu berücksichtigen.
Die aktuelle politische Bewertung von Maßnahmen ist zu sehr auf ihren erhofften Nutzen für COVID-19 fokussiert. Deshalb habe ich in meinem neuen Fachbuch „Corona-Maßnahmen – Nutzen, Risiken und Folgen“ versucht, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu verschiedenen Maßnahmen zusammenzustellen (tredition Verlag, Hamburg; ISBN: 978-3-347-24818-2). Ich hoffe, auf diesem Weg eine breitere Diskussion auszulösen, damit die zahlreichen Menschen, die einen gesundheitlichen Schaden durch einzelne Maßnahmen erleiden, mehr in den Blickwinkel der Gesellschaft, Medien und Politiker rücken. Denn der gesundheitliche Nutzen einer Maßnahme muss immer größer sein als die mit ihr verbundenen Risiken bzw. negativen gesundheitlichen Folgen. Für Lockdowns weisen erste Berechnungen aus England darauf hin, dass der gesundheitliche Schaden größer ist als ihr Nutzen, gemessen als gesamter Verlust an qualitativ guten Lebensjahren. Es ist somit Zeit, den Menschen mit negativen gesundheitlichen Folgen durch einzelne verordnete Maßnahmen die gleiche öffentliche Aufmerksamkeit einzuräumen wie den COVID-19-Patienten. Deshalb bin ich Herrn Irmer sehr dankbar, dass es mir als ehemaligem Wetzlarer Schulabsolvent des Jahrgangs 1983 die Möglichkeit gegeben hat, diesen Artikel zu verfassen.
Prof. Dr. Günter Kampf, Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin, Hamburg