Sozialer Umgang
Wie gehen wir miteinander um?
Bilderbücher zum Thema, wie wir gut mit anderen klarkommen
Die Pandemie und der Lockdown haben einiges in unserem Leben durcheinandergebracht. Auf die meisten Veränderungen konnten wir uns einstellen – aber was haben die eingeschränkten sozialen Kontakte unter den Kleinsten in der Gesellschaft für Folgen? Wissen wir alle noch, wie wir gut miteinander umgehen können? Konfliktsituationen im Bilderbuch wecken unser Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, Gefühle der anderen richtig deuten zu können, ohne dabei zu vergessen, auch für die eigenen einzustehen.
Zu den bewegendsten Bilderbüchern in diesem Zusammenhang gehört sicherlich Marla Frazees „Kleiner Streuner“ (Aladin, 2020). Probleme, wie sie in jeder Kita-Gruppe oder Schulklasse auftreten können, werden hier spielerisch in einen Hundezwinger verlegt. Da sitzt ein kleiner brauner Hund allein in einer Ecke und ist furchtbar wütend. Die Mundwinkel hängen, die Stirn ist gerunzelt; ganz klein macht sich der Hund und senkt den Kopf. Wenn wir ganz genau hingucken, dann wirkt er eher traurig als wütend. Den Grund dafür erfahren wir bald: Während alle anderen Hunde vergnügt miteinander rennen und spielen, ist der kleine Streuner ganz allein. Dabei weiß er genau, dass er toll Ball spielen oder rennen oder sich im Matsch wälzen könnte – wenn die anderen ihn nur ließen. Die jedoch wissen nicht, was sie mit dem Streuner anfangen sollen. Er guckt so zornig, dass sich niemand in seine Nähe wagt. Und was er danach macht, verstehen sie erst recht nicht: Er klaut ihnen nach und nach all ihr Spielzeug und sammelt alles auf einen großen Berg, den er argwöhnisch bewacht. Für ihn ist klar, dass die anderen mit ihm spielen müssen, wenn er ihre Sachen hat. Die Hunde jedoch sind jetzt völlig ratlos. Sie tun, was Hunde tun, wenn sie nicht mehr weiterwissen: Sie kratzen sich mit der Hinterpfote am Ohr. Und sie hoffen, dass ihnen am folgenden Tag eine Lösung einfällt. Marla Frazee entscheidet sich in ihrem überwiegend in sanften Braun- und Grautönen gehaltenen Bilderbuch für ein offenes Ende. Niemand kommt und hilft den Hunden, niemand vermittelt, niemand greift ein. Da sind die Leser gefragt, große und kleine. Schon die ganze Zeit wollen wir den Hunden zurufen, dass sie doch mal genau hingucken sollen. So schwer ist es doch nicht, einen, der abseits steht, mit dazu zu holen – oder? Mit diesem Kunstgriff macht die Autorin ihre in kurzen und einfachen Sätzen geschriebene Geschichte zum wertvollen Begleiter in Kita, Schule oder zu Hause. Sie regt die Betrachter selbst zum Nachdenken an! Und wenn wir ganz genau hinsehen, dann finden wir vielleicht auch in unserem Umfeld einen, der böse guckt, aber tief im Herzen einfach einsam ist. Sehr empfehlenswert!
Um zwei Kindergruppen geht es in Lisan Adbåges „Die Bestimmer“ (Beltz&Gelberg, 2020). Die Bestimmer sind zu viert, und sie entscheiden, wer wo spielen darf. Grundsätzlich dürfen sie immer da spielen, wo sie gerade hinwollen, und das bedeutet für die anderen Kinder, dass sie das Feld räumen müssen. Den Hof, die Schaukel, das Klettergerüst ... Immer wieder suchen sich die Kinder einen neuen Platz, immer wieder haben sie neue Ideen. Doch egal, was sie machen, die Bestimmer machen es kaputt. Eine Wendung tritt ein, als die Bestimmer den Bolzplatz erobern und plötzlich feststellen, dass man zu viert nur sehr schlecht in zwei Mannschaften Fußball spielen kann. Aber als sie den anderen befehlen wollen, mitzuspielen, fällt denen etwas auf: Sie sind jetzt die Stärkeren – und sie sagen nein ... Bestimmer kennen viele Kinder, und sicher ist vielen auch der Teufelskreis bekannt, in den man viel zu schnell gerät. Lisa Adbåge zeigt, wie man sich wehren kann, ohne selbst aggressiv zu werden. Gewaltfrei lassen die Kinder die Bestimmer einfach an ihrer eigenen Gemeinheit scheitern – und den kleinen Triumpf, den sie so erfahren, den genießen wir als Leser und Buchbetrachter aus ganzem Herzen mit! Wunderbar!
Kristina Dumas und Ina Worms haben sich in einem Sachbuch mit den Themen Zanken und Vertragen auseinandergesetzt. In einfacher Sprache und klaren Bildern erläutern sie in „Streiten für Anfänger“ (Annette Betz, 2020), wer sich bei Tier und Mensch gerne streitet, woher die Streitkultur kommt und vor allem: wie man richtig streitet. Ist man nämlich selbst bereit, dem anderen zuzuhören und verzichtet man auf den Austausch von Schimpfwörtern, lassen sich viele Situationen einfacher klären. Wie das genau funktioniert, erleben wir anhand vieler Beispiele, die sich durch das ganze Buch ziehen und uns positive Alternativen für leidige Situationen aufzeigen. Für Kitas und Grundschulen ein wertvoller Begleiter, aber auch für Familien, die eingefahrene Situationen gerne mal neu angehen möchten.
Dass ein Perspektivenwechsel hilfreich ist, können wir im Bilderbuch „Der Berg“ (NordSüd, 2021) miterleben. Jedes der Tiere, die dort wohnen, hat einen anderen Blick auf den Berg: Waldig, behauptet der Bär. Blumig, würzig, frisch und summend, meint das Schaf. Voller Wasser und Farben, sagt der Oktopus, der am Fuß des Bergs im Wasser lebt. Dunkel und erdig, weiß die Ameise. Noch viel mehr Meinungen kommen zum Tragen, und irgendwann bricht ein Streit aus, weil jeder Recht haben will. Da rät der weise Zugvogel, allen Tieren, bis zum Gipfel zu klettern und von oben auf den Berg zu schauen ... „Der Berg“ ist aus verschiedenen Gründen ein sehr empfehlenswertes Bilderbuch, denn neben dem Thema Streiten und Vertragen bekommen kleine und große Buchbetrachter hier noch viel mehr geboten: Wie viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt es, etwas zu beschreiben? Rebecca Gugger verwendet nur kurze Sätze, aber so schöne Worte, dass es geradezu bereichernd ist, diesen Text zu lesen. Simon Röthlisberger gibt der Geschichte in seinen Bildern Raum, indem er immer wieder eine großartig illustrierte Doppelseite ganz ohne Text einfügt, die uns die Möglichkeit gibt, das zuvor Gelesene ganz und gar zu begreifen und zu spüren. Ein rundum schönes Bilderbuch, das uns allen zeigt, wie schnell wir Streit vermeiden können, wenn wir bereit sind, einen neuen Blick auf eine Situation zu werfen.
Über den Autor
Lese- und Literaturpädagogin
Phantastische Bibliothek Wetzlar