Der Fliegenpilz

Giftpilz, Rauschdroge und Pilz des Jahres 2022

Nachdem ich Ihnen in den letzten Ausgaben dieser Zeitschrift stets Heilpflanzen näher gebracht habe, soll es in diesem Jahr um Pilze gehen. Pilze gehören weder zu den Pflanzen noch zu den Tieren, sondern bilden ein eigenes Reich. Sie können keine Photosynthese betreiben wie Pflanzen, müssen sich also anders „ernähren“. Zudem sind sie sehr vielgestaltig, denken Sie nur an Schimmel, Hefen, oder Ständerpilze. Das Spektrum der sekundären Pilzinhaltsstoffe ist sehr vielfältig und es finden sich darunter heilsame Arzneistoffe wie auch starke Gifte. Wir werden einige im Jahresverlauf kennenlernen.

Der heute betrachtete Fliegenpilz (lat. Amanita muscaria (L.) Pers.) dürfte allen Lesern bekannt sein. Er kommt in unseren heimischen Wäldern häufig vor, ist aufgrund seines oft typischen Aussehens gut zu bestimmen und als Giftpilz schon Kindern geläufig. Der rote Hut des Pilzes kann bis zu 20 cm Durchmesser erreichen und ist meist mit weißen Tupfen übersät, Reste einer weißen Hülle, die den jungen Pilz zunächst völlig umschließt und beim Herauswachsen in kleine Stücke zerreißt. Die Lamellen auf der Unterseite des Hutes sind weißlich. Der Stiel ist ebenfalls weißlich, hat eine häutige, gezähnelte Manschette, kann einen Durchmesser von bis zu 3 cm erreichen und 20 cm hoch werden. Er ist am Fuß zwiebelartig zu einer Knolle verdickt. Daher wird die Gattung „Amanita“ im Deutschen auch als „Wulstlinge“ oder „Knollenblätterpilze“ bezeichnet. Der Fliegenpilz kommt im Sommer und Herbst in Laub- und Nadelwäldern vor und ist durch seinen leuchtend roten Hut sehr auffällig. Die Deutsche Gesellschaft für Mykologie hat ihn zum „Pilz der Jahres 2022“ ausgerufen.

Anzeichen einer Vergiftung sind zunächst starke Magenschmerzen und Übelkeit, selten bis hin zum Erbrechen, die schon 1/2 – 2 Stunden nach Verzehr auftreten. Weiterhin kommt es wie bei Alkoholmißbrauch zu Verwirrtheitszuständen, Sprach- und Bewegungsstörungen, starker motorischer Unruhe, darüber hinaus zu Zittern, Zuckungen und Krämpfen, Euphorie oder Angstzuständen. Auch Halluzinationen wurden berichtet. Anticholinerge Symptome sind stark erweiterte Pupillen (Mydriasis), Herzrasen (Tachykardie) und trockenen Schleimhäute. Todesfälle sind beim Verzehr ausreichend großer Pilzmengen denkbar, jedoch relativ selten beschrieben.

Gegenmaßnahmen bei einer Vergiftung sind zuerst die Entleerung des Magens und/oder die Gabe von Aktivkohle, um verbliebene Giftstoffe zu binden. Je nach Stärke der anticholinergen Symptome muß ein Arzt über die Gabe eines direkten Parasympathomimetikums entscheiden.

Das Spektrum der giftigen Inhaltsstoffe des Fliegenpilzes ist bis heute nicht erschöpfend untersucht, auch weil manche Stoffe sich schnell zersetzen oder nur in sehr geringen Mengen vorhanden sind.

Hauptgiftstoff ist Ibotensäure (= Prämuscimol), eine biosynthetisch wohl aus Glutamat gebildete Aminosäure, die instabil ist. Sie zerfällt leicht unter Decarboxylierung zu Muscimol, das wesentlich stärker wirksam ist als Ibotensäure selbst und als Halluzinogen für die psychotropen Effekte verantwortlich ist. Muscimol ist ein Strukturanalogon von Gamma-Aminobuttersäure (GABA) und hochaffiner Agonist am GABAA-Rezeptor. Es wirkt so zentral dämpfend auf das Gehirn. Die tödliche Dosis (LD50) von Muscimol für Menschen ist unbekannt. Für Ratten liegt sie bei 4,5 mg/kg Körpergewicht i.v. bzw. 45 mg/kg oral, d.h. für eine 200 g schwere Ratte reichen bei oraler Gabe weniger als 10 Milligramm aus, i.v. weniger als 1 mg.

In geringen Mengen finden sich als weiteres Zerfallsprodukt der Ibotensäure Muscazon sowie Muscarin. Aufgrund der sehr geringen Konzentrationen (im ppm-Bereich) sind diese Substanzen für die Giftwirkung jedoch wohl kaum relevant.

Wenn Sie also Erzählungen und Berichte hören über die Verwendung von Fliegenpilzen als Rauschdroge, die Verwendung getrockneter Fliegenpilze durch Schamanen oder das Trinken von Urin von Menschen, die Fliegenpilze zu Erzeugung von Rauschzuständen eingenommen haben, denken Sie gar nicht über eine Nachahmung nach. Das vollständige Giftspektrum des Pilzes ist noch nicht bekannt, der Giftgehalt kann stark schwanken, die tödliche Dosis ist vielleicht schon bei 100 g Pilzpulver erreicht – und ein solch riskantes Delirium braucht kein Mensch. Wenn Ihnen dieser Tage ein Fliegenpilz „begegnet“, nehmen Sie ihn als Glücksbringer für´s neue Jahr! Alles Gute!

Über den Autor

Dr. Karl-Heinrich Horz
Dr. Karl-Heinrich Horz
Apotheker

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Aktuelle Ausgabe04.01.