…und was fühlen Sie da jetzt eigentlich?

Für Patienten, die vor ihrer ersten Behandlung noch nie etwas von der Osteopathie gehört haben, mag der Beginn der osteopathischen Untersuchung merkwürdig anmuten: man steht im Raum oder liegt auf der Bank und der Osteopath/die Osteopathin legt seine/ihre Hände auf bestimmte Körperteile und lässt sie dort eine Zeit lang verweilen – scheinbar ohne wirklich etwas zu tun. Auch die Behandlung erfolgt zum Teil mit wenig Druck oder Bewegung. Viele Menschen assoziieren die Osteopathie deshalb mit „Heilen durch Handauflegen“. Doch was steht wirklich hinter dem Prinzip des „Handauflegens“? Was spürt bzw. sucht der Osteopath im Körper des Patienten? Da wir diese Fragen sehr häufig gestellt bekommen, soll sich dieser Artikel mit diesem Thema auseinandersetzen.

Die hier dargestellte Methode stellt nur eine Möglichkeit dar, osteopathisch zu untersuchen bzw. zu behandeln. Jeder Osteopath sucht sich über die Zeit eigene Untersuchungsmethoden und Techniken aus einem „großes Repertoire“ aus, die ihm/ihr gut liegen und die den individuellen Behandlungsstil ausmachen.

 

Der Verband der Osteopathen Deutschland e. V. – der größte Berufsverband für Osteopathen in Deutschland – beschreibt die Osteopathie als eine „[…] eigenständige, ganzheitliche Form der Medizin, in der Diagnostik und Behandlung mit den Händen erfolgen. […] (VOD e. V., 2021)“. Dabei bestehen die Untersuchung und die Behandlung jedoch mitnichten nur aus dem bereits angesprochenen Handauflegen! Wer bereits einmal eine osteopathische Behandlung miterlebt hat weiß, dass es dabei auch nicht immer nur sanft zugeht: Es wird außerdem gedrückt, gezogen, geschoben, bewegt, gegen muskuläre Anspannung gehalten und Höhenunterschiede bzw. Asymmetrien bemessen. Dieses Berühren von Gewebe mit der Hand bzw. den Fingern wird in der Fachsprache als Palpation bezeichnet. Mit der Palpation verfolgt der Osteopath das Ziel, Veränderungen im Gewebe aufzuspüren, die das Beschwerdebild des Patienten verursachen oder mit beeinflussen könnten. (Der Begriff Gewebe bezieht sich hierbei übrigens nicht nur auf die Haut oder Muskeln, sondern außerdem auf jegliche im Körper befindlichen Organe, Knochen, Gefäße und Nerven.)

Damit eine bestimmte Struktur im Körper des Patienten als (osteopathisch) auffällig gewertet und als für die Behandlung relevant betrachtet wird, muss bei ihr mindestens in einem von vier Parametern eine Veränderung vorliegen. Diese werden gerne mit dem Akronym TART abgekürzt, das sich aus den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe für die jeweiligen Parameter bildet (Fryer, 2016):

Der erste Parameter „Schmerzhaftigkeit“ bzw. Empfindlichkeit (tenderness) der betroffenen Stelle ist der Einzige, der nicht vom Behandler wahrgenommen werden kann, sondern immer in Referenz zum Patienten zu sehen ist. Zwar relevant für die Untersuchung und Diagnosestellung und als Orientierung geeignet, steht die empfindliche Stelle oder Region für Osteopathen häufig nicht an primärer Stelle im Behandlungsplan. Dies führt manchmal zu Unverständnis, da der Schmerz für den Patienten häufig der ausschlaggebende Faktor für einen Besuch beim Osteopathen ist und eine Behandlung des Schmerzes erwartet wird.

Der zweite Parameter ist die Asymmetrie (asymmetry). Hier ist es besonders wichtig, dass die betroffene Struktur (z. B. die Schulter) im Seitenvergleich untersucht wird, um eine Aussage treffen zu können und auszuschließen, dass die scheinbare Asymmetrie nicht zufällig der Physiologie, also dem Normalzustand des Patienten, entspricht. Wenn dies nicht möglich ist, muss der Osteopath auf seine Erfahrung zurückgreifen und die Form im Verhältnis zu dem beurteilen, was er über die Zeit als normal zu bewerten gelernt hat (Parsons & Marcer, 2006).

Eine Veränderung in der Beweglichkeit (range of motion abnormality) eines Gelenks oder von Gewebe lässt sich meist leicht erkennen und wird auch häufig bereits in der Anamnese vom Patienten als Störfaktor angegeben: „Ich kann meine linke Schulter nicht mehr heben.“ oder „Wenn ich mich dehne, dann merke ich, dass mein linkes Bein nicht so weit nach außen fallen kann, wie das rechte Bein es tut.“. Sie bietet neben der Schmerzhaftigkeit für viele Patienten eine weitere wichtige Orientierungsmöglichkeit, die Effektivität einer Behandlung zu beurteilen.

Das zweite T im Akronym steht für eine im Verhältnis zur Norm veränderte Gewebsstruktur (tissue texture change). So kann sich die betroffene Region oder eine spezifische Struktur durch eine Einlagerung von Flüssigkeit schwammig oder, durch das Bilden von faszialen Verklebungen, fest anfühlen. Außerdem kann sie aufgrund von veränderter Durchblutung zusätzlich eine Rötung aufweisen oder, im Falle von Minderdurchblutung, blass und trocken aussehen (Parsons & Marcer, 2006). Patienten nehmen diese Veränderung des Gewebes oft als Verspannung wahr.

Die beschriebenen Veränderungen in mindestens einem der genannten Parameter werden in der Osteopathie unter dem Begriff „somatische Dysfunktion“ zusammengefasst. Sie führt zu biomechanischen und/oder neurologischen Veränderungen im Körper, die über verschiedene Mechanismen die körpereigene Fähigkeit zur Kompensation und Selbstheilung (Homöostase) einschränkt und in diesem Zuge zu Beschwerden wie z. B. Schmerz führen kann. In der Literatur wird eine somatische Dysfunktion als eine funktionelle und durch gezielte Manipulation reversible Veränderung im menschlichen System beschrieben. Mit anderen Worten kann eine osteopathische Behandlung durch eine ursächliche Behebung der Problematik dem Körper die Fähigkeit zur ungestörten Homöostase zurückgeben und dem Patienten/der Patientin zur Schmerz- bzw. Beschwerdefreiheit verhelfen (Fryer, 2016; Atchison, Tochin, Ross, Eubanks, 2020).

 

Da nun die Frage nach dem „was wird gesucht“ beantwortet ist, müssen wir uns folgerichtig der Frage zuwenden, „wie“ gesucht wird. In diesem Kontext müssen wir uns wiederum zwei Parameter vor Augen führen, die ausschlaggebend für den Rahmen einer osteopathischen Untersuchung und Behandlung sind: die Zeit, über die sich ein Termin erstreckt, und die Ganzheitlichkeit, die dem Osteopathen vorgibt, nicht nur das Symptom zu fokussieren, sondern den Menschen in seiner Gesamtheit zu betrachten und entsprechend zu behandeln.

Da es zeitlich gesehen extrem ineffizient und vermutlich nicht innerhalb eines Termins machbar wäre, jede einzelne Struktur im Körper auf eine evtl. vorliegende somatische Dysfunktion zu untersuchen, bedient sich der Osteopath eines Tricks: er versucht, die Problemzonen von der Globalität des Patientenkörpers aus durch orientierende Tests einzugrenzen und diese dann mit Schnelltests ganz spezifisch auf eine Struktur zu reduzieren. Bei diesem Vorgang spielen die oben genannten TART-Parameter eine große Rolle. Wie die einzelnen Tests aussehen und welche benutzt werden, variiert von Osteopath zu Osteopath. Sehr häufig werden jedoch sogenannte „Listening-Tests“ verwendet (Biberschick, 2010). Dabei nimmt der Osteopath Kontakt zum Gewebe des Patienten auf, indem er z. B. an die Füße fasst, eine Hand unter das Becken oder auf den Bauch legt oder den Kopf des Patienten in die Hände nimmt, mit dem Ziel, über die Haut einen Kontakt zum Fasziensystem des Körpers zu erhalten. Da die Faszien im gesamten Körper vorhanden sind und ihn wie eine innenliegende Haut einfassen, können über sie Spannungsvektoren übertragen werden, die von Orten mit veränderter Gewebestruktur (TART) oder eingeschränkter Beweglichkeit (TART) ausgehen. Diese Orte sind Regionen, die einer spezifischen Untersuchung unterzogen werden, um die dirigierende Dysfunktion zu finden und dann mit geeigneten Techniken dem Patienten seine Beweglichkeit und Schmerzfreiheit zurückzugeben (Lossing, 2002). Wenn der Osteopath etwa einen Zug vom linken Fuß spürt, der im Becken plötzlich stoppt, werden die beiden Beckenhälften mit ihrem Inhalt genauer untersucht. Die Seite, die im Vergleich einen oder mehrere der TART-Parameter aufweist, wird dann genauer unter die Lupe genommen, indem die anatomischen Strukturen einzeln untersucht werden, bis die Dysfunktion gefunden ist.

Vorstellen kann man sich das so, als würde man an einer Ecke eines Tischtuches ziehen. Dieses wird sich in alle Richtungen zusammenziehen und auch auf der gegenüberliegenden Seite über die Tischkannte nach oben rutschen, auch wenn der Zug an einer ganz anderen Stelle ausgeübt wird. Man wir das Tischtuch an dieser Kante noch so oft wie man möchte glattstreichen können – wenn man nicht mit dem Ziehen an der anderen Ecke aufhört, wird das Glattstreichen nicht langfristig von Erfolg gekrönt sein.

 

 

Quellen:

  • Atchison, J. W., Tochin, R. B., Ross, B. S., Eubanks, J. E. (2020). Manipulation, Traction, and Massage in Cifu, David X. (Hrsg.) Braddom's Physical Medicine and Rehabilitation (S. 316-337). Elsevier
  • Biberschick, M. (2010): „Legt Euch ein Schema zurecht“: Die Routineuntersuchung in der Osteopathie. Masterthesis: Donauuniversität Krems/Wiener Schule für Osteopathie
  • Fryer G, Somatic Dysfunction: An Osteopathic Conundrum, International Journal of Osteopathic Medicine (2016), doi: 10.1016/j.ijosm.2016.02.002.
  • Lossing, K. (2002): Visceral Manipulation. In Ward, R. C., Hruby, R. J. (Eds.). Foundations of osteopathic Medicine. Second Edition:1078-1093. Philadelphia: Lippicot Williams & Wilkins
  • Parsons, J. & Marcer, N. (2006) Osteopathy - Models for Diagnosis, Treatment and Practice. Elsevier
  • Verband der Osteopathen Deutschland e. V. (2021) Was ist Osteopathie? abgerufen von https://www.osteopathie.de/was_ist_osteopathie

 

Über den Autor

Joachim Reichelt
Joachim Reichelt
Heilpraktiker, staatl. anerkannter Osteopath,
Zentrum für Osteopathie im Medicenter Wetzlar
Aktuelle Ausgabe1/2024