Vom Sinn und Unsinn medizinischer Maßnahmen

Oder: Warum wir eine „evidenzbasierte Medizin“ brauchen

Eine der häufigsten Behandlungsmethoden früherer Mediziner war der Aderlass. Die Maßnahme erfreute sich weltweiter Beliebtheit, Belege dafür finden sich u.a. in Schriften aus Ägypten um 1500 v. Chr., aus der Han-Dynastie Chinas (ab ca. 200 v.Chr.) sowie bei Griechen und Römern. Letztere glaubten, der Monatsfluss einer Frau sei eine natürliche Art, Gifte aus dem Körper zu entfernen. Folglich schien die Entfernung von Blut eine vernünftige Methode der Entgiftung zu sein. Es galt das krankmachende Blut zu entfernen. In der westlichen Welt waren Aderlässe bis ins 19. Jh.. ein verbreitetes Allheilmittel. Zu den berühmtesten Opfern dieser Behandlung zählt der 1. Präsident der USA George Washington. Als er im Winter 1799 einen fieberhaften Infekt erlitt, wurde er so lange mit Aderlässen behandelt, bis er nach ca. 4 Litern Blutverlust starb. Acht Jahre zuvor starb Wolfgang Amadeus Mozart ebenfalls nach zahlreichen Aderlässen.

Der Aderlass ist nur ein Beispiel aus zahlreichen Irrtümern der Medizingeschichte. Behandlungen mit Quecksilber, Arsen, Radium oder Strychnin wären weitere. Heute belächeln wir diese Absurditäten. Doch woher wissen wir, dass unsere modernen Methoden besser sind, dass wir nicht neuen Irrtümern aufsitzen. Mit genau dieser Frage beschäftigt sich die evidenzbasierte Medizin.

Was ist evidenzbasierte Medizin?

Der Begriff Evidenz steht für die objektive Nachvollziehbarkeit eines Sachverhaltes. Mit „evidenzbasierter Medizin“ (EbM) ist eine Medizin gemeint, die sich nicht nur auf persönliche Ansichten, Erfahrungen und Überzeugungen verlässt, sondern nach den besten objektiven Beweisen fragt. Die Überprüfung medizinischer Behandlungskonzepte mit wissenschaftlichen Methoden und Studien ermöglicht diese kontinuierlich weiter zu entwickeln und zu verbessern. So konnte beispielsweise belegt werden, dass die viele Jahre herrschende Lehrmeinung Menschen mit leichten Herzklappenfehlern vor Operationen antibiotisch behandeln zu müssen überzogen war und die entsprechende Leitlinie wurde angepasst.

Medizinische Maßnahmen sind selten nur gut und risikolos. Selbst die Bestimmung eines Laborwertes kann schädlich sein, wenn er zu falschen Schlüssen, Ängsten oder Fehlbehandlungen führt. Daher gehört zur evidenzbasierten Prüfung einer Maßnahme regelhaft die Abwägung von Nutzen, Risiken und Folgen sowie der Vergleich mit Alternativen.

Die Frage wie nach dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse die jeweils beste Behandlung funktioniert, wird in medizinischen Fachgesellschaften bearbeitet und in Leitlinien festgeschrieben. Ein zentrales Leitlinienregister findet sich im Internet unter awmf.org. Darüber hinaus gibt es ein Institut, das den Nutzen medizinischer Maßnahmen im staatlichen Auftrag für das deutsche Gesundheitssystem bewertet, das IQWiG, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (Website: gesundheitsinformation.de).

Beispiele einer Nutzen- Risiko Abwägung:
Die Vorsorge-Koloskopie (Darmspiegelung)

Die Teilnahme an einer Vorsorge-Koloskopie senkt das Risiko eine Darmkrebserkrankung zu bekommen oder daran zu sterben um jeweils etwa die Hälfte. Dieser Vorteil wird erkauft durch das Risiko möglicher Komplikationen einer Koloskopie, wie Blutungen oder Verletzungen des Darmes. Die Komplikationen sind beherrschbar und deutlich seltener als darmkrebsbedingte Todesfälle. Alternativ zur Koloskopie wird ein immunologischer Stuhltest angeboten. Dieser erkennt den Darmkrebs jedoch unzuverlässiger. Daher kann die Koloskopie zur Darmkrebsvorsorge und
-früherkennung empfohlen werden.

Evidenz in der Pharmazie

Bevor ein neues Medikament zugelassen wird, muss belegt sein, dass es nicht nur gut wirkt, sondern auch einen zusätzlichen Nutzen hat und seine Risiken und Nebenwirkungen in einem vertretbaren Verhältnis zum Nutzen stehen. Von diesem wissenschaftlichen Beweis sind jedoch homöopathische und sogenannte Naturheilprodukte durch eine Sonderregelung ausgenommen. Insgesamt entzieht sich die Komplementärmedizin weitgehend den in der Wissenschaft üblichen Maßstäben einer Evidenzbewertung.

COVID-Impfung

Weltweit sind etwa 11,8 Milliarden COVID-Impfungen verabreicht worden. Auch wenn unterschiedliche Impfstoffe verwendet wurden, gab es für keine andere Impfung je so viele Studien, Daten und Informationen. Die Risiken der Impfstoffe sind qualitativ und quantitativ bestens bekannt und beschrieben. Der Nutzen ist zumindest für die bisher relevanten SARS-COV-2 Mutanten ebenso bekannt. Dabei gilt für Erwachsene und alle bisherigen Virusvarianten: Das Risiko zu sterben oder schwer zu erkranken ist im Falle einer COVID-Infektion um ein Vielfaches höher als durch eine in der EU zugelassene Impfung.

Die Grenzen der evidenzbasierten Medizin

Der Nutzen und die Risiken einer Maßnahme lassen sich oft in statistischen Zahlen beschreiben, ohne dass sich daraus automatisch eine allgemeingültige Bewertung ergeben muss. Die evidenzbasierte Medizin kann hier aber helfen eine persönliche Entscheidung zu treffen.

Ein Beispiel dafür ist die Bestimmung des PSA-Wertes zur Früherkennung von Prostatakrebs. Dazu schreibt das IQWiG:
„Der PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs hat Vor- und Nachteile: Einerseits kann er 3 von 1000 Männer davor bewahren, an Prostatakrebs zu sterben. Andererseits erhalten bis zu 60 von 1000 Männern eine unnötige Prostatakrebs-Diagnose – und damit oft eine unnötige Krebsbehandlung. Ob man sich testen lassen möchte oder nicht, ist eine Frage der persönlichen Abwägung.“

Um den Nutzen einer Behandlung einschätzen zu können, werden objektive Daten benötigt, möglichst aus wissenschaftlich hochwertigen, korrekt durchgeführten Studien (im Idealfall mit repräsentativer randomisierter Stichprobe mit hoher Fallzahl, prospektiv, doppelblind und mehrfach mit gleichem Ergebnis bestätigt). Das ist sehr aufwendig und oft nicht perfekt, gelegentlich auch gar nicht möglich. Je nach Qualität und Menge der vorliegenden Daten wird daher zwischen Evidenzstärken (schwach bis stark) unterschieden. In ärztlichen Leitlinien wird einer Empfehlung jeweils ein Evidenzgrad zugewiesen.

Für manche Evidenzbewertung in der Medizin gibt es keine ausreichenden Daten, weil etwas nicht genug untersucht wurde. Wenn es für eine medizinische Methode (noch) keine Evidenz gibt, bedeutet dies nicht automatisch, dass sie nicht helfen kann oder Unsinn ist. Es sei denn, es gibt eine Evidenz für den Unsinn. Wenn wir aber die Wahl haben, zwischen einer Behandlung, deren Nutzen hoch und gut belegt ist und einer Behandlung, für die es keinen Beleg gibt, dann sollte uns die Entscheidung leicht fallen.

Über den Autor

Dr. med. Roger Agne
Dr. med. Roger Agne
Chefarzt Innere Medizin
Dill-Kliniken

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