Bilderbücher von der Schüchternheit

Die Kraft der Stille

Kloß im Hals, rote Wangen, schweißnasse Hände – viele Kinder kennen das Gefühl, sich am liebsten verkriechen zu wollen, wenn sie mit anderen zusammenkommen. In ihrem Empfinden sind sie allein mit diesem Gefühl, denn allen anderen fällt es ja anscheinend leicht, miteinander zu spielen und zu sprechen. Das macht das Schüchternsein umso schwerer, denn es fühlt sich „nicht normal“ an. Wie gut, dass es Bilderbücher gibt, die genau diese liebenswerten Schüchternen in den Mittelpunt stellen. Sie sind ein wertvoller Gesprächsanlass, um auch den Stillen um uns herum zu zeigen, dass sie uns wichtig sind – und dass sie mit ihrem Gefühl nicht so alleine sind, wie sie glauben.

In zauberhaft pastellige Töne bringt Simona Ciraolo das Thema Schüchternheit, indem sie uns in eine bunter Unterwasserwelt mitnimmt. Dort lebt der kleine rosa Dumbo-Oktopus Maurice, dessen große Stärke es ist, sich quasi unsichtbar zu machen. Ob beim Spielen, beim Lernen oder einfach so – Maurice ist kaum zu sehen. Dabei ist er alles andere als langweilig, hat viele Interessen und Talente, für die wir ihn bewundern würden, wenn wir nur davon wüssten. Als Maurice auf einen Geburtstag eingeladen wird und seine Mutter für ihn zusagt, ohne ihn zu fragen, protestiert er auf seine Weise: Er zieht sich eine Papiertüte über, auf die er ein grimmiges Gesicht gemalt hat. Lustigerweise sitzt auf der Party auf dem Sofa neben ihm eine ebensolche Papiertüte mit nicht minder grimmigem Ausdruck. Ob da etwa noch jemand schüchtern ist? Die Geschichte wird in der Du-Perspektive erzählt und richtet sich somit direkt an uns. Fast erinnert sie uns an einen Ratgeber, und wir fragen uns beim Lesen, wer sie wohl erzählt. Erst auf der letzten Seite wird das Geheimnis gelüftet, und da müssen wir uns das Buch gleich nochmal von vorne anschauen: Ist der Kofferfisch, der unter der zweiten Papiertüte steckt, vielleicht die ganze Zeit schon auf den Bildern zu sehen gewesen? Ein zauberhaftes Plädoyer für alle Nicht-Schüchternen, genau hinzusehen und die stille Stärke in denjenigen zu sehen, die lieber nicht so sehr im Mittelpunkt stehen.

In eine Unterwasserwelt nimmt uns auch die Geschichte „Alfie und der Clownfisch“ mit. Hier stehen nicht vermenschlichte Tiere im Mittelpunkt, sondern ein schüchterner Junge, der mit Bauchschmerzen auf das tolle Kostümfest reagiert, auf dem er eigentlich gern in phantasievoller Verkleidung auftreten wollte. Als er am Tag selbst merkt, dass es nicht geht, reagiert seine Mutter voller Verständnis. Anstatt ihn zu überreden, nimmt sie ihn mit ins Aquarium, wo sie beide einen schönen, stillen Tag miteinander verbringen. Den Clownfisch findet Alfie am schönsten, und als er fragt, warum er sich immer versteckt, liefert ihm seine Mutter eine ganz einfache Antwort, die auch für Alfie selbst gelten könnte: Clownfische sind eben so! Ein wunderbares Bilderbuch um Akzeptanz und eine wertvolle Anregung für Familien, wie sie selbst mit dem Thema Schüchternheit umgehen können. Sehr lesenswert!

Schüchtern ist auch der klitzekleine Dinosaurier in „Normans erster Tag im Kindergarten“. Wie das Oktopuskind Maurice versteckt er sich gern, aber anders als Maurice wünscht er sich eigentlich, mitzuspielen. Erst als sie alle gemeinsam eine kleine Aufführung vorbereiten sollen, merkt Norman, dass er nicht der Einzige ist, der unter Schüchternheit leidet. Auch der große Felix wird nervös bei dem Gedanken, vor allen anderen aufzutreten. Da hat Norman eine pfiffige Idee! Dieses Bilderbuch ist ein wahrer Schatz für schüchterne Kindergartenkinder, denn die kunterbunt gestalten Dinosaurier und insbesondere Norman sind so liebenswert gezeichnet, dass man sie sofort ins Herz schließt. Toll ist auch, wie die anderen Dinokinder dargestellt werden: Jedes findet einen Weg, es dem schüchternen Norman leichter zu machen, dazuzugehören. Ein herzerwärmendes Bilderbuch zum Immer-wieder-lesen!

Die sechsjährige Lilia würde sich am liebsten auch immer verstecken und wünscht sich dazu lange Ponyfransen. Leider schneidet Mama sie immer ganz kurz, und so wird es nichts mit dem Unsichtbarwerden in der Klasse. Am liebsten wäre Lilia ein Chamäleon, das nach Belieben die Farbe wechseln kann – stattdessen ist sie immer rot im Gesicht, und das ist ganz entsetzlich. Lilia findet, dass sie den falschen Namen hat: „Rosa“ hätte viel besser gepasst. In der Schule machen sich die Kinder über Lilias roten Kopf lustig, so dass sie sich nicht mehr traut, irgendetwas zu sagen und in den Pausen allein bleibt. Erst als Nerina neu in die Klasse kommt, ändert sich etwas. Auch Nerina ist schüchtern, aber sie wird immer ganz blass, wenn sie etwas sagen soll. Ob sie es zu zweit schaffen, ihre Schüchternheit zu überwinden? „Lilia und Nerina“ ist eine sehr starke Geschichte, in der vor allem der Ausdruck „mit dem Mut, den nur die Schüchternen kennen“ zutiefst berührt. Das Buch hilft dabei, sich in zurückhaltende Kinder einzufinden; die Bilder von Marina Marcolin, besonders die zarten Skizzen, die sie immer wieder einfließen lässt, sind unglaublich ausdrucksstark. Ein Buch, das Schüchternen hilft, das aber auch dazu einladen kann, dass sich alle Kinder einer Klasse gemeinsam darüber unterhalten, wie man es schüchternen Kindern leichter macht, sich dazugehörig zu fühlen. Sehr empfehlenswert.

Über den Autor

Maren Bonacker
Maren Bonacker
Lese- und Literaturpädagogin
Phantastische Bibliothek Wetzlar

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