Uralte Mythen, Ammenmärchen und Fake News
Gefährdungspotential - nicht nur für das Kindeswohl
Seit der Antike bis heute gibt es in allen medizinischen Bereichen teils harmlose, aber auch lebensgefährdende Heiler, die als selbsternannte oder gar gut ausgebildete Experten Ansichten und Therapien verbreiten, die dem Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnisse mit Leitlinienkompetenz und Evidenz nicht standhalten. Dem modernen „Influencer“ stehen alle medialen Kommunikationskanäle zur Verfügung. So beeinflussen sie nachhaltig und hartnäckig die berechtige Erwartung verzweifelt Hilfesuchender nach der bestmöglichen Behandlung ihrer oft chronischen Leiden. Aus der Kinder- und Jugendmedizin werden markante Beispiele solcher Irrwege dargestellt.
Stillen
Stillen ist die natürlichste Ernährungsform eines Säuglings. Muttermilch gibt dem Neugeborenen alles, was zum guten Gedeihen erforderlich ist: ausgewogene Nahrung, fürsorgliche Nähe und Gesundheitsprävention für die Mutter. Säugen von Neugeborenen durch Tiere ist ein klassisches Thema der Mythologie: Romulus und Remus gesäugt von einer Wölfin oder die Entstehung der galaktischen“ Milchstraße“ durch Verspritzen der Muttermilch beim Säugen von Herkules. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde eine liebevolle, körperliche Mutter-Kind-Beziehung in gesellschaftlichen Kreisen eher als Ursache einer schlechten Erziehung angesehen. Geselliges Vergnügen stand höher als die emotionale Zuwendung zum Kind. „Ammenmärchen“ sind erfundene Geschichten zur Kurzweil während des Stillens. Anfang des 19. Jhd. hielten Findelhäuser und Kliniken Esel, Kühe und Ziegen als Ammenersatz und als Schutz vor der stark verbreiteten durch Stillen übertragbaren Syphilis. Im Dresdener Säuglingsheim gab es 1904 noch 208 Ammen! Seit 1920 fand dann industriell hergestellte Babyflaschennahrung rasche Verbreitung. Die Diskussion um das Stillen – ab wann, wie oft, wie lange, wann und welche Beikost ist unendlich. Aktuelle Richtlinien der WHO empfehlen für gesunde Neugeborene und Mütter ausschließliches Stillen nach Verlangen bis zu 6 Monaten 8-12x pro Tag ohne festen Stillrhythmus. Teilstillen bis zu 2 Jahren und darüber hinaus so lange wie Mutter und Kind dies wünschen - ohne jeden Stillzwang. Untersuchungen zeigten jedoch, dass der Schlafrhythmus bei Zufüttern dem Durchschlaf des Babys und dem der Eltern ausgesprochen guttut. Aktuelle Leitlinien für allergisch vorbelastete Familien (Eltern und Geschwister): Keine Kuhmilch in den ersten Tagen, keine diätetischen Restriktionen zur Prophylaxe, keine Pre/Probiotika zur Prophylaxe aber durcherhitztes Hühnereiweiß und selbst Erdnüsse, Gluten in der Beikost regelmäßig geben, keine Katze! Impfen nach STIKO Empfehlung. Der Ausbruch von Unverträglichkeiten bei Neurodermitis oder Zöliakie wird von der individuellen Gendisposition gesteuert. Verunsicherte Eltern sollten sich frühzeitig von allergologisch tätigen Pädiatern beraten lassen.
Schlaf
Neugeborene schlafen bis zu 18 Stunden am Tag – Schlafen bedeutet Ruhe- und Regeneration. Gegen Schlaflosigkeit gibt es unzählige Ratschläge: Schlaf vor Mitternacht ist der Wichtigste. Dies trifft weder für Kinder noch Erwachsene zu. Der Tiefschlafanteil ist zwar anfangs relativ groß, hängt aber individuell vom Alter und dem genetischen Chronotyp ab. Es gibt „Lerche“ und „Eule“ als Früh- und Nachtmensch. Schlafstörung bei Vollmond Mondfühligkeit ist durch Schlaflaboruntersuchungen nicht bestätigter Mythos. Weder Schlafdauer noch Schlafqualität waren auffällig. Beim Schlafwandeln (Somnambulismus) gibt es grundsätzlich keine Sicherheit - jedoch immer wieder Verletzungen selbst Todesfälle. Bis zu 5% aller Kleinkinder sind bei familiärer Belastung betroffen, nasse Handtücher auf dem Boden helfen nicht gegen die partielle Orientierungsstörung. Im frühen Alter kommt es zumeist zu einer Spontanremission – leider nicht immer. Präventive Sicherung von Fenstern und Türen samt Bewegungsmelder ist unverzichtbar. Warme Honigmilch fördert nicht wirklich den Schlaf auch nicht die Produktion von Melatonin und Tryptophan. Schmeckt gut und fördert den immer noch weit verbreiteten Kariesbefall im Milchzahnalter. Da hilft auch keine „Zahnfee“ -nur richtig kontrollierte Zahnreinigung und der frühe prophylaktische Zahnarztbesuch.
Allergien und Neurodermitis (Atopische Dermatitis)
Die Haut als großes sichtbares Körperteil bietet sich für mythische Fantasien geradezu an – als „Entgiftungsorgan“, zur mittelalterlichen Säftelehre, zur Stigmatisierung und völliger Isolation bei Ausschlägen und in unserer Zeit mit vielfältig einsetzbaren Wundercremes oder Spezialdiäten. Neurodermitis war und ist ein großes Betätigungsfeld für Heiler aller Art. Was ist gesichert? Antiseptische oder rückfettende Wasserbäder sind unverzichtbarer Bestandteil der entzündeten Haubehandlung. Die Ernährung sollte zuckerarm und ausgewogen sein, irgendwelche gar teure Spezialdiäten sind zumeist Fake. Eine Nahrungsmittelallergie findet man im Kleinkindalter nur in 1-2 % der Bevölkerung, bei Kindern mit schwerer Neurodermitis steigt das Risiko einer Nahrungsmittelallergie auf 30%. In diesen Fällen ist eine gezielte fachärztliche Allergiediagnostik – evtl. auch mit Provokation unverzichtbar. Angebote zu einem sehr teuren diagnostischen IgE -Laborrundumschlag oder z.B. Bioresonanzdiagnostik führt meist zu teuer, vergeblichen „Spezialdiäten“.
Kortison
Medizinisch nicht nachvollziehbar haben Kortikoide bei vielen Eltern einen schlechten Ruf. Dass bei Langzeitanwendung in hoher Dosierung auch schwere Nebenwirkungen auftreten können, ist verantwortlichen Ärzten schon immer bekannt. Ihr Einsatz bei der Behandlung akuter, großflächiger Entzündungsherde mit unerträglichem Juckreiz ist derzeit – auch beim Einsatz neuer „Biologica“ Medikamente“ unverzichtbar! Jeder Arzt wird das entsprechende Präparat, Dosierung und Anwendung, notwendige Kontrollen und zeitliche Begrenzung individuell so festlegen, dass gefürchtete Nebenwirkungen sicher vermieden werden. Eine „Eltern- und Kindschulung“ ist seit vielen Jahren Therapiebestandteil bei chronischen Erkrankungen. Das Verständnis und der Umgang mit der für alle schweren Belastung wird als große Hilfe wahrgenommen.
Penizillin
Infektionskrankheiten beängstigten schon immer die Menschheit. 20% unserer Gesamtbevölkerung geben in einer Umfrage eine Penizillinallergie an.
Von 300 britischen Kindern, denen ärztlicherseits eine Penizillinallergie attestiert wurde, hatten nach fachärztlicher Diagnostik mit Testung und Provokation nur 2 tatsächlich eine Allergie! Dies bedeutet, dass bei jedem Verdacht, eine gezielte Abklärung mit Infos zur Prävention (Allergiepass) erfolgen muss. Der Reflex: Halsschmerzen, Fieber, Angina, Scharlach gar rheumatisches Fieber führte zu der Standardtherapie 10tägiger Penizillineinnahme. Dieses medizinhistorisch bedingte Reflexverhalten hatte einen – aus Expertensicht nur schwer zu korrigierenden unkritischen Antibiotikaeinsatz zur Folge.
Homöopathie
Seit Samuel Hahnemanns „Erforschung“ der Wirksamkeit von Hochverdünnungen einzelner Substanzen bei vielen Erkrankungen um 1810 schwören in Deutschland etwa 12 % der Bevölkerung und 40 % der Eltern systematisch auf Globuli - auch bei schwerer Neurodermitis, unklaren Schmerzen und Fieber. Nicht nur z.B. die EU- Wissenschaftsakademie und US- Verbraucherschutzbehörde oder die DAKJ (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin) als Expertengremien sowie viele Staaten stufen die „klassische“ Homöopathie als unwirksamen Placeboeffekt ein und erstatten keinerlei Kosten. In Europa übersteigt der Umsatz der „sanften“ Alternativmedizin die Milliardengrenze! Fachliche Diskussionen sind leider bei verhärteten Fronten wenig sinnvoll. Dabei geht es um größtmögliche Patientensicherheit und nicht zuletzt auch um Kindeswohlgefährdung durch Verschleppung einer effektiv evidenzbasierten Therapie.
Impfmedizin
In der seit nunmehr dreijährigen „Coronapandemie“ stand die Impfung - neben Kontakteinschränkung und dem Mund/Nasenschutz - als nachweißlich effektive Prävention im Mittelpunkt unseres täglichen Lebens. Impfungen sind völlig unbestreitbar - seit der ersten Pockenimpfung von Jenner 1807 in England bis zur aktuellen Zulassung des neuesten Coronaimpfstoffes gegen die aktuellen Mutationen des Covid 19 Virus - eine der größten Erfolge in der Medizingeschichte. Viele lebensgefährdende – und verkürzende Seuchen sind nur noch Geschichte. Mit welchen Fake News= Lügen werden die Menschen verunsichert und gefährden durch Nichtimpfen den Schutz der gesamten Gesellschaft, insbesondere der Kinder, Alten und Schwachen: „Impfungen sind heute nicht mehr erforderlich -Die Krankheit selbst zu durchleben schützt besser als eine Impfung –Impfrisiken und Nebenwirkungen sind nicht hinreichend bekannt –zu viele Impfungen (Kombinationsimpfungen) überlasten das Immunsystem und können Autoimmunkrankheiten und Autismus auslösen, Schwangere dürfen nicht geimpft werden“ usw.
Alle solche Einwendungen sind wissenschaftlich widerlegt, eine Diskussion mit „eingefleischten“ Impfgegnern ist kaum möglich.
Jeder – ob Kind oder Erwachsener - hat Anspruch auf altersgerechte, rational verständliche, evidenzbasierte Diagnostik und Therapie. Die Grenze alternativer Behandlungsmethoden zur unterlassenen Hilfeleistung ist ein schmaler Grat, der nicht nur -aber in besonderem Maße - von Ärzten verantwortungsvoll mit jedem Patienten und den Eltern offen und ehrlich abgewogen werden muss. Für historische Mythen und Fake News darf in der akuten und präventiven Medizin kein Raum sein.
Weitere Info: www.kindernetzwerk.de; www.kinderaerzte- im-netz.d
Über den Autor
Kinder-Jugendarzt/Allergologie, Wetzlar