„Jugendmedizin“ in der Pädiatrie
Was ist das und warum sie unverzichtbarer ist denn je!
In der Geschichte der Kinderheilkunde gab es bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts weder eine spezielle Ausbildung noch eine Fachbezeichnung für die Ärzte, die sich in besonderer Fürsorge um die Gesundheit der Kinder kümmerten. Neugeborene, Babys, Klein- und Schulkinder wurden ebenso wie Jugendliche im Rahmen der Allgemein- oder Internen Medizin versorgt. Stationär in Findelhäusern, Spitälern oder in Räumen großer Kliniken. In Berlin erhielt die „Charite‘ 1830 als erste Kinderklinik in Deutschland ein eigenes Gebäude: 1832 Gründung der „Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde“, 1894 erster Lehrstuhl für Kinderheilkunde, 1970 „Berufsverband deutscher Kinderärzte. Nach langen Forderungen aller pädiatrischen Fachgesellschaften wurde 2010 die offizielle Berufsbezeichnung: Facharzt und Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin eingeführt.
Jugendliche sind weder groß gewordene Kinder noch kleine Erwachsene
Sie haben ihre speziellen Bedürfnisse, Wünsche und Sorgen. In jahrelanger Pubertät wird das Gehirn unvorstellbar kompliziert neurobiologisch „umgebaut“. Teenager müssen sich in dieser wunderbaren, aber auch verwundbarsten Lebensphase nicht nur individuell körperlich, geistig, seelisch sondern auch im Sozialverhalten ständig weiterentwickeln, um ihre eigene Persönlichkeit zu finden und zu akzeptieren. Man wusste zwar, dass sich die Mehrzahl der Jugendlichen - insbesondere in sozial und ökonomisch privilegierten Umfeld - einer guten Gesundheit erfreut, war aber nach großen Studien zu der erschreckenden Erkenntnis gekommen, dass - insbesondere in den „unteren“ Bevölkerungsschichten – Jugendliche erheblichen psychosozialen und medizinisch gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind.
Die Teilnahme am Vorsorgeprogramm „Gelbes Heft“ nimmt von der Geburt (U-1) 100 % auf 50% zur J-1 Jugendgesundheitsuntersuchung mit 12 Jahren ab. Heranwachsende Jungen sind häufiger als Mädchen bei weitem nicht so gesund und fit, wie man denkt und wünscht. In der seit 2009 jährlich bundesweiten Kindergesundheitsstudie „KIGGS“ des Robert Koch Instituts klagen 15 % der Jugendlichen über häufige körperliche und psychische Belastungen: Kopf -Bauch- oder Rückenschmerzen 40% der Mädchen und 30% der Jungen. Ein schneller Griff zu Medikamenten löst selten mannigfaltige psychosoziale Probleme. Individuelle Alarm-situationen frühzeitig zu erkennen und kompetent zu behandeln verlangt von der Ärzteschaft große Verantwortung durch eine Empathische Einstellung und Beziehung Jugendliche sind eine Praxisbereicherung mit Vertrauen, Zuhören und altersgemäßer Kommunikation sowie Fachwissen- und können durch ständige Weiterbildung in Jugendmedizin.
Um diesen Bedürfnissen der jungen Generation in unserer rasant komplexen Gesellschaft gerecht zu werden, wurde die Jugendmedizin als „Jungenmedizin“ in der Pädiatrie und als interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft „Kinder- und Jugendgynäkologie“ e.V. für Mädchen international organisatorisch und wissenschaftlich - selbstverständlich gendergerecht – etabliert.
Jungs, Jugendliche und junge Männer
suchen - leider - viel seltener ärztlichen Rat als Mädchen und Teenager. Sie fühlen sich männlich, fit und stark – zeigen jedoch zu 30 % häufiger konfliktträchtige Verhaltensauffälligkeiten. Interfamiliär belastende soziale, finanzielle, auch räumliche Verhältnisse sind ebenso Risikofaktoren für psychosoziales Wohlbefinden wie Schulproblemen. Ausgrenzungen bei körperlich oder geistigen Beschränkungen und aus Hass gegen Migranten führen für alle zum Dauerstress. Jungen sind emotional meist wenig mitteilsam: Sie schweigen, vertuschen, reden klein, blenden aus oder negieren. Sie unterdrücken ihre Gefühle – weil das in unserer erfolgs- und geldorientierten Konsumgesellschaft nicht dem Idealbild eines starken, souveränen Mannes entspricht!? Testosterongesteuert suchen sie als Rudelwesen in ihrer “Clique“ durch handfestes Kräftemessen sowohl ihren Selbstwert als auch ihre Stellung in der Gemeinschaft. Sie fallen zunehmend durch aggressives, gewalttätiges Verhalten auch im Rahmen radikaler, politischer Aktivitäten, die nicht selten zu polizeilichen Ermittlungen und Jugendstrafen führen. Eher aggressives Fortbewegen - Fahrrad, Skateboard oder Auto - ist „in“, die Unfallhäufigkeit erhöht. Im individuellen Frust und emotionalem Stress mit Eltern, Schule und Gesellschaft geraten Jugendliche immer häufiger in die Fallstricke „cooler“ Verhaltensmuster: Spielesucht, „Gaming“ inklusive Poker, Medien- und ausufernder Internet – und Handykonsum, brutale Rivalitäts- und Sexualdelikte oder Nikotin/E-Zigaretten und Alkoholmissbrauch mit „Rausch bis zum Komasaufen“ und Drogenkonsum von Cannabis oft als fataler Einstieg zu hartem „Stoff“ wie Kokain, Heroin oder Crystal Meth. Süchte haben ein hohes Rückfallrisiko bis hin zur körperlichen und geistigen Zerstörung mit sozialem Abstieg einer noch unreifen Persönlichkeit.
Die politisch geplante völlige Freigabe von Haschisch ab 18 ist aus medizinischer Sicht nicht zu verantworten. Jedes Gehirn „reift“ bis zum 25 Lebensjahr! Ein früher Drogenkonsum führt oft zu Dauerschäden: Die Gesetzesvorlage muss überarbeitet werden!
Mädchen, Teenies und junge „Damen“
sind genetisch? - in allen Studien deutlich resilienter also widerstandsfähiger als Jungen. Sie bauen sich öfter und zielstrebig stabile Sozialbeziehungen mit eher geringem Konkurrenzdruck in Peergroups auf. Sie zeigen signifikant mehr und ein effektiveres Interesse an Schule, Hobbies, Bildung allgemein und spezifiziert auch an Gesundheitsfragen - einschließlich ihrem Aussehen und Auftreten – als Jungen. Sie leben statistisch länger im familiären Umfeld und zeigen zunehmend bessere Schul- und Studienleistungen als Jungen. Sie gehen sensibler und emotional mitteilsamer miteinander um, wodurch weniger Konflikte zu mehr Solidarität und psychischer Stabilisierung führt. In Pubertätskrisen leiden sie jedoch häufiger unter depressiven und psychosomatischen Verstimmungen. Diese manifestieren sich mit gesellschaftlichem Rückzug bis zu explosionsartigen Wut- und Zornausbrüchen. Angst- und Essstörungen von der Bulimie bis zu jugendpsychiatrisch frühzeitig behandlungsbedürftiger Magersucht oder Suizidverhalten.
Bedrohungen, die Heranwachsende aller Geschlechter meistern müssen
Übergewicht als Folge falscher Ernährung, Bewegungsmangel oder Frustessen führt schnell zu Hänseleien, Schulversagen, sozialer Isolation mit der Folge meist lange unerkannt larvierter oder manifester Aggressivität oder Depression bis hin zur Suizidanfälligkeit.
Die Gefährdung Schutzbefohlener jeden Alters durch sexuellen Missbrauch – nicht nur durch Erwachsene - ist unverantwortlich spät in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Nur eine frühe sexuelle Aufklärung, Toleranz - Gendern eingeschlossen, Wachsamkeit aller und schnelle, kompetente Hilfe kann die Schutzbefohlenen jeden Alters schützen.
Rückblick auf die „auslaufende“ Coronapandemie
der letzten zwei Jahre mit wechselnd strengen Isolations- und Schutzmaßnahmen einschließlich der Masken und der unzweifelhaft erfolgreichen Impfstrategien haben deutliche Spuren und Schäden in allen Altersstufen hinterlassen. Bis zu 1o% der Kinder und Jugendlichen leiden am Long Covid Syndrom mit anhaltender Symptomatik, über deren Dauer und Prognose selbst Fachärzte kein Urteil abgeben können. Typische Beschwerden wie Müdigkeit, Kraftlosigkeit, Lunge- Herz oder neurologische Ausfälle bedürfen spezieller ärztlicher, psychologischer und physiotherapeutischer Behandlung. Erhebliche Schulleistungsdefizite müssen aufgeholt werden, denn Homeschooling war vielmals nicht wirklich erfolgreich. Nicht nur – aber häufiger in der Pandemie - wurden Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen nicht durchgeführt: Impflücken müssen geschlossen werden: Auffrischimpfungen der Grundimmunisierung, Reiseimpfungen und wegen sehr großem Defizit der HPV- Impfschutz vor Gebärmutterhalskrebs für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren.
Angstbesetzte Themen u.a. der Überfallkrieg der Sowjetunion gegen die Ukraine muss altersentsprechend einfühlsam vermittelt werden: Flüchtlingssituation mit Improvisation bei Unterkunft, Kita oder Schule, Vereine verstehen und akzeptieren zu können.
Ausbildungschancen – und Wünsche für die Zukunft der Jugendlichen müssen in der Schule von Lehrern frühzeitig und gezielt individuell angesprochen werden.
Klimaschutz, Umweltverschmutzung, Verkehrssituation u.a. sind seit Jahrzehnten hochaktuelle Themen, bei deren Aufklärung und Umsetzung die neue Generation sachlich und engagiert mitgenommen werden muss, um einer weiteren Radikalisierung vor zu beugen.
Jugendmedizin muss auf jeder ärztlichen Versorgungsebene verbessert werden:
Praxis für Kinder- und Jugendmedizin -inclusive der medizinischen Fachangestellten (MFA)
Kinder- und Jugendklinik inclusive Pflegepersonal
Sozialpädiatrisches Zentrum“ (SPZ) mit multiprofessionellen Teams für überwiegend psychoneurologische und syndromale Patienten mit und ohne Behinderungen vom Säuglings - bis ins Jugendalter
Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) ist unverzichtbar in enger Kooperation mit Schul- und Jugendamt oder Sozialbehörden durch prophylaktische Untersuchungen, Beratungen z.B. Schulverweigerung, Begutachtung bei sonderpädagogischem Förderbedarf, Asylbewerberleistungsgesetz oder im Jugendarbeitsschutz, Integration,
Inklusion= bestmögliche Chancengleichheit für alle, Transition ( Übergang der ärztlichen Betreuung vom Jugend- zum „Erwachsenenarzt“ jeden Fachgebiets.
Die chronische und noch akute Situation in der Gesundheitsversorgung heranwachsender Jugendlicher kann auf keiner Ebene als wirklich zufriedenstellend bezeichnet werden. Politik und Gesellschaft müssen mit der Ärzteschaft alle Anstrengungen machen, um den teils erheblichen Mangel an räumlichen, personellen, therapiespezifischen und nicht zuletzt finanziellen Ressourcen zur gesundheitlichen Versorgung unserer Jugendlichen zu gewährleisten.
Weitere Information:
www.jungenmedizin.de ,www.kiggs-studie.de, kinderaerzte-im netz.de,
Impfmedizin: www.stiko.de.,mund@kindernetzwerk.de, www.happy-youth.de
Über den Autor
Kinder-Jugendarzt/Allergologie, Wetzlar