
Bewährtes und Neues in der Behandlung der Adipositas
Trotz vielfältiger Anstrengungen nimmt die Anzahl übergewichtiger Menschen scheinbar unaufhaltsam zu. So sind heute über 60% der Männer und etwa 50% der Frauen in Deutschland übergewichtig.
Der Anteil an krankhaft übergewichtigen, das heißt adipösen Menschen liegt bei über 18% der Bevölkerung, das sind fast 15 Mio. Menschen in Deutschland. Dabei nimmt das Auftreten von Übergewicht und Adipositas mit dem Alter zu und hat den höchsten Anteil bei den 65- bis 74-Jährigen. Neu ist, dass in den letzten 10 Jahren auch der Anteil der übergewichtigen jungen Menschen zunimmt, bereits vor der Corona-Epidemie war mehr als jeder vierte 18- bis 24-Jährige übergewichtig.
Die Wahrnehmung der Adipositas hat sich sowohl im Gesundheitsbereich als auch in der Bevölkerung geändert. Früher wurde Adipositas als selbstverschuldeter Zustand und eher kosmetisches Problem angesehen. Heute ist allgemein bekannt, dass Adipositas gravierende gesundheitliche Schäden verursacht und bestehende Erkrankungen verschlimmert. Auch finden die psychologischen und sozialen Faktoren der Adipositas zunehmend mehr Beachtung, sei es der Teufelskreis „Stigmatisierung – negative Gefühle – Spannungsabbau durch Essen – Gewichtszunahme – weitere Stigmatisierung“ oder dass Menschen mit Übergewicht für weniger belastbar und schlechter qualifiziert gehalten werden, was sogar mit beruflicher Benachteiligung einhergeht.
Obwohl es bislang nicht gelungen ist, eine Kehrtwende beim Auftreten von Übergewicht herbeizuführen und Programme zur Prävention keine ausreichende Wirkung zeigen,so stehen der modernen Medizin doch einige sehr wirksame, sichere und erprobte Methoden zur Behandlung der Adipositas zur Verfügung. Medizinische Leitlinien fassen dabei wissenschaftliche Erkenntnisse zusammen und stellen Behandlungsempfehlungen zur Verfügung. Wo stehen wir also 2023?
Basis jedweder Adipositas-Therapie ist die Umstellung der Lebensgewohnheiten: Vermehrte Bewegung, reduzierte Kalorienzufuhr, Verhaltensumstellung. Dies klingt einfach, ist jedoch für den Patienten eine große Herausforderung. Das Adipositaszentrum am Klinikum Wetzlar hilft den Patienten dabei und koordiniert und begleitet die Therapie in Zusammenarbeit mit der Hausärztin und dem Hausarzt. Diese Kombination aus Ernährungsberatung, Sport und Bewegungstherapie sowie verhaltenstherapeutischem Ansatz wird als „multimodale konservative (= nicht operative) Therapie“ bezeichnet. Unter Koordination des Adipositaszentrums wird der Patient von einer spezialisierten Ernährungsberatung betreut und beginnt ein intensives Bewegungsprogramm. Nach Bedarf werden Spezialisten wie z.B. Krankengymnasten oder Verhaltenstherapeuten hinzugezogen. Dieses Programm dauert mindestens sechs Monate.
Kommt es während des multimodalen konservativen Therapieansatzes zu keinem deutlichen Gewichtsverlust bei dem Patienten, müssen Alternativen erwogen werden. Hier stehen medikamentöse Therapien, sogenannte interventionelle Verfahren und die Adipositas-Chirurgie zur Verfügung. Bei allen Therapieverfahren lassen sich in den letzten Jahren Verbesserungen beobachten, insbesondere die operativen Verfahren sind jedoch bei weiterhin sehr hoher Wirksamkeit noch schonender für die Patienten geworden.
Zur medikamentösen Therapie der Adipositas stehen seit vielen Jahren zwei Medikamente zur Verfügung: Orlistat® hemmt Enzyme zur Fettverdauung damit die Aufnahme der Fette in den Körper. Liraglutid, eigentlich ein Diabetes-Medikament, wirkt auf bestimmte Hirnregionen und mindert Appetit und Hunger. Beide Medikamente führen leider nur zu einem geringen Abnehmeffekt. Seit einem Jahr steht mit Semaglutid ein neues Medikament aus der Diabetestherapie zur Verfügung,welches nach ersten Untersuchungenjedoch auch zu einem deutlichen Gewichtsrückgang in der Adipositastherapie führt. In den USA kam es daraufhin zu einem unglaublichen Presseecho um das Medikament, wo es zur Behandlung der Adipositas bereits breite Verwendung findet. Ähnliches lässt sich in Deutschland noch nicht beobachten, was an verschiedenen Faktoren liegt: Das Medikament kann vom Hersteller bislang kaum geliefert werden, es muss gespritzt werden, die Patienten nehmen nach Absetzen häufig wieder zu und es hat eine Reihe von Nebenwirkungen. Zudem entstehen dem Patienten erhebliche Kosten, da die Kosten für Adipositas-Medikamente durch die Krankenkassen nicht erstattet werden. Ein weiteres vielversprechendes Medikament, Tirazapatid, ist in Deutschland noch nicht verfügbar.
Einige Adipositaszentren bieten interventionelle endoskopische Therapien an. Bei der endoskopischen Sleeve-Gastroplastie („Endo-Sleeve“) wird bei einer Magenspiegelung mit Klammern die Magenwand gerafft und so das Magenvolumen verkleinert. Dies sorgt für ein früheres Sättigungsgefühl. Ähnlich wirken soll der Magenballon. Hier wird ein mit Wasser gefüllter Ballon in den Magen eingebracht. Er verbleibt für 6 bis 12 Monate im Magen und reduziert ebenfalls dessen Volumen. Beide Verfahren erwiesen sich in Studien als sicher und führen durchschnittlich zu einem Gewichtsrückgang von etwa 15% des Ausgangsgewichts. Aber beide Verfahren haben Nebenwirkungen: Häufig wird von Übelkeit und Erbrechen sowie Schmerzen berichtet. Die Kosten der Behandlungen werden in der Regel nicht von der Krankenkasse erstattet.
In der Adipositas-Chirurgie wurden die seit vielen Jahren erfolgreich angewendeten Eingriffe optimiert und die besten Operationstechniken werden den Patienten individualisiert angeboten. So beraten wir Sie im Adipositaszentrum Wetzlar bei bestehender Operationsindikation ganz individuell anhand Ihrer spezifischen Voraussetzungen und den angestrebten Therapiezielen.
Das Magenband aus Silikon, welches früher als vermeintlich „kleiner“ Eingriff in einer minimal-invasiven Operation um den oberen Magen gelegt wurde, wird heute kaum mehr angewendet. Bei nur mäßigem Abnehmerfolg zeigten sich zum Teil lebensbedrohliche Komplikationen und schwerwiegende Nebenwirkungen.
Die häufigsten Adipositasoperationen sind heute der Magenbypass und die Schlauchmagenbildung (Sleeve-Gastrektomie). Beim Schlauchmagen wird ein großer Teil des Magens entfernt. Der kleine Restmagen ist schon mit kleinen Essensmengen gefüllt, dies bewirkt ein starkes Sättigungsgefühl. Beim Magenbypass wird ebenfalls ein kleiner Restmagen geschaffen, zudem aber auch durch spezielle Verbindungen zwischen Magenrest und Dünndarm die Kontaktfläche zwischen Nahrung und Verdauungssäften reduziert. Dies senkt zusätzlich die Aufnahme der Nährstoffe in den Körper. Beide Operationen sind sehr sicher und haben in unzähligen wissenschaftlichen Untersuchungen ihre Wirksamkeit bewiesen. Neben dem großen Abnehmeffekt führt besonders der Magenbypass als Verfahren der „metabolischen Chirurgie“ häufig zu einer dramatischen Verbesserung des Zuckerstoffwechsels des Patienten: Ein Diabetes mellitus Typ II kann durch diese Operation erheblich gebessert, in vielen Fällen sogar geheilt werden.
Die Patienten, für welche eine Operation in Frage kommt, werden im Adipositaszentrum Wetzlar in einem strukturierten, mehrstufigen Programm auf die Operation vorbereitet und nach dieser auch zeitlebens nachbetreut. Wurde im Vorfeld ein erfolgloser konservativer Therapieversuch unternommen und eine „Ultima-Ratio-Situation“ festgestellt, übernimmt die Krankenkasse die Behandlungskosten.
Adipositas-Operationen wurden praktisch immer minimal-invasiv durchgeführt. Durch die Einführung der robotisch-assistierten Chirurgie am Klinikum Wetzlar seit 2020 konnte eine weitere Verbesserung der ohnehin sehr guten Behandlungsergebnisse erzielt werden. Die optimale Sicht durch die robotische 3D-Kamera und die elektromechanische Unterstützung der Bewegungen des Chirurgen bieten in der Adipositas-Chirurgie große Vorteile: Insbesondere die komplexe Nahtverbindung zwischen Restmagen und Dünndarm lässt sich perfekt an die jeweiligen Bedingungen anpassen und mit größter Sicherheit anlegen. Zudem werden die großen Kräfte, welche durch die Bauchdecke des Patienten auf die Instrumente wirken, durch das Da Vinci® System kompensiert. Dies ermöglicht ein sehr exaktes Arbeiten, welches insbesondere bei Patienten mit sehr hohem Gewicht (BMI über 55 – 60 kg/m2) zum Tragen kommt. Auch minimiert die robotisch-assistierte Adipositaschirurgie durch speziell konfigurierte und positionierte Kanülen („Trokare“) unerwünschte Bewegungen und daraus resultierende Mikroverletzungen auf Ebene der Bauchdecke.
All dies kommt letztlich den Patienten zugute. Während sich Patienten nach minimal-invasiven Adipositas-Operationen schon sehr schnell erholten, konnte dies durch die robotisch-assistierte Adipositaschirurgie noch weiter verbessert werden. Frühere Mobilisation und Entlassung der Patienten reduzieren dabei auch die nicht-operativen Risiken noch weiter: Thrombosen oder Lungenentzündungen treten um so seltener auf, je schneller der Patient wieder fit und mobil ist.
Die individuell an die Voraussetzungen des Patienten angepasste Operation ist nach wie vor die effektivste Therapie der Adipositas. Gewichtsrückgänge von 40 kg, 60 kg, teilweise bis zu 80 kg im ersten Jahr nach der Operation sind keine Seltenheit. Im zweiten Jahr geht die Geschwindigkeit des Gewichtsrückgangs langsam zurück, nach drei bis fünf Jahren ist das Gewicht meist stabil. Sehr viele Patienten erreichen ihr Wunschgewicht und einen Gewichtsbereich, in welchem keine gesundheitlichen Schäden durch die Adipositas mehr auftreten. Bestehende Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes mellitus bessern sich erheblich und verschwinden teilweise völlig. Zur Sicherung des Langzeiterfolges ist jedoch die nachhaltige Umstellung der Lebensgewohnheiten notwendig. Hierbei unterstützen wir die Patienten im Rahmen der Nachsorge nach der Operation.
Bei Fragen zum Adipositaszentrum Wetzlar oder konkreten Terminanfragen für unsere Adipositassprechstunde können Sie uns gerne kontaktieren. Wir werden dann gemeinsam mit Ihnen erörtern, welche diagnostischen und therapeutischen Schritte in Ihrem individuellen Fall sinnvoll und geeignet sind.
Über den Autor

Ärztlicher Leiter des Adipositaszentrums
Lahn-Dill-Kliniken Wetzlar