Epilepsie im Kindes- und Jugendalter

Eine aktuelle Übersicht über Krampfleiden – ehemals „Fallsucht“

Zerebrale Krampfanfälle gehören mit bis zu 10 % aller pädiatrischen Notfallrettungseinsätze zu den meist gestellten Diagnosen.

Etwa 3% aller Kinder in Europa erleiden in ihrem Leben einen Fieberkrampf und 50% der Epilepsieerkrankungen beginnen in der Kindheit. Kompetente Soforthilfe sollte je nach Art und Schweregrad des Anfalls nach wenigen Minuten geleistet werden, um Dauerschäden oder Lebensgefahr abzuwenden.

Symptomatik

Das akute Anfallsgeschehen ist gekennzeichnet durch tonisch harte Steifigkeit oder klonisch schnelle, unwillkürliche Muskelzuckungen. Diese Krämpfe befallen einzelne Muskeln, Gruppen oder den gesamten Muskelapparat.

Eltern und Betreuer müssen ihrem Kind sofort nach Beginn eines Anfalls ihre volle Aufmerksamkeit widmen: Unverzüglicher Hilferuf an Notrettungsdienst (Tel. 112), Kind beruhigen, nicht festhalten wollen, sondern unfallgeschützt lagern. Für den Notarzt oder Rettungssanitäter den bisherigen Krampfablauf möglichst exakt mit Zeitdauer, Krampfart und Begleitumständen wie Fieber, Bewusstseinszustand des Kindes (Ansprechbarkeit/ Ohnmacht), Atmung, Einnässen- oder koten sowie mögliche Umstände als Krampfauslöser wie Sturz, Einnahme von Medikamenten oder Giften notieren.

Vielfältige Ursachen

Epilepsie wird durch Störungen oder Defekte in bestimmten „fokalen“ Hirnarealen im zentralen Nervensystem von überschießenden Entladungen ausgelöst. Anfälle treten entweder als Gelegenheitskrampf oder als generalisierter Krampf = Status epilepticus auf. Der mit Abstand häufigste Gelegenheitskrampf ist der „Fieberkrampf“, der im Alter von 6 Monaten bis 5 Jahren oft in Zusammenhang mit einem akuten Infekt bei meist schnell steigender Temperatur über 39°C auftritt. Pädiatrische Neurologen unterscheiden einen erstmaligen Fieberkrampf ohne zerebrale Vorschädigung, kürzer als 15 Minuten, ohne fokale Zeichen und ohne Wiederholung innerhalb von 24 Stunden als unkompliziert. Wiederholte, fokale Anfälle mit Lähmungen und Bewusstseinsverlust, bis zum Status epilepticus werden als komplizierte Gelegenheitskrämpfe bezeichnet.

Unkomplizierte Gelegenheitskrämpfe (Petit mal) können auch konstitutions- und genetisch veranlagt durch Schlafentzug, Unterzuckerung, Stress, Flacker-Neonlicht, Alkohol, Stromunfälle oder Vergiftungen, Medikamente oder Drogen (auch Haschisch!) getriggert ausgelöst werden.

Ursachen häufiger oder länger anhaltender epileptischer Krämpfe sind sehr vielfältig. Sie können von angeborenen Hirnstrukturdefekten, über Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus, Elektrolytentgleisungen Kalzium, Kalium, Vitamindefizite, Sauerstoffmangel, in 20 % der Fälle durch Infektionen im Rahmen einer viralen oder bakteriellen Hirn- oder Hirnhautentzündung (Enzephalitis/Meningitis), bei Hautverletzung und unvollständigem Tetanusimpfschutz, einem Hirntumor mit Steigerung des Hirnwasserdrucks sowie durch einen gefäßbedingten Hirnschlag (Apoplex) auftreten. Eine Blutung nach Schädelhirntrauma bei Sturz oder Schlag/Schleudertrauma als Kindesmisshandlung führen nicht selten zu lebenslangen Krampfanfällen. Epilepsien finden sich gehäuft - dann genetisch bedingt - im Zusammenhang mit familiär bekannten, komplexen Syndromerkrankungen. Neugeborene zeigen wegen ihrer noch unreifen Hirnstruktur oft bei Sauerstoffmangel unter der Geburt zu „untypischen“ motorischen Symptomen mit auffälliger Gesichtsmimik oder Bewusstseins- Atemstörungen. Im Kleinkindalter treten sogenannte „Blitz-Nick-Saalam (BNS“) Krämpfe mit typischer „Ganzkörperknick-motorik“ auf.

Jeder Gelegenheitskrampf verläuft in der Regel ohne Ohnmacht kann in einen lebensbedrohlichen Großen Anfall (Grand Mal) mit einer Dauer bis zu 20 Minuten bis zum „prolongierten“ mehr als 50minütigen Status epilepticus übergehen.

Der typische Grand Mal Krampf beginnt in der tonischen Phase mit Streckung, Atemnot, Zyanose (Blausucht), Zungenbiss, Speichelfluss und Zittern am ganzen Körper. In der 2. Phase klonisch beidseits wechselnd synchrone Zuckungen und Schlaffheit. Der Patient ist nicht ansprechbar! Nach dem Ende des Anfalls, der bis zu 20 Minuten dauern kann, besteht völlige Erschlaffung, Ermüdung und Erschöpfung später dann meist starke Kopf- und Muskelschmerzen.

Nach einem erstmaligen Krampfanfall soll immer eine stationäre Dauerüberwachung möglichst in einer Kinderklinik erfolgen. Durch umfangreiche neurologische Diagnostik einschließlich Labortests, Rückenmarkspunktion, EEG (Aufzeichnung der Hirnstromaktivität), Röntgen, CT, MRT, Kernspintomographie kann eine Diagnose gestellt werden. Diese Befunde sind Voraussetzung führt jegliche effektive und oft lebensrettende pädiatrische Intensivbehandlung - sei sie medikamentös oder operativ.

Wichtige Differenzialdiagnosen zu epileptischen Anfällen

Psychogene Anfälle sind teilweise schwer von einer Epilepsie zu unterscheiden und führen immer wieder zu einer „Übertherapie“. Mögliche Hinweise zur richtigen Diagnose sind geschlossene, “ zugekniffene Augen“ ohne Bewusstseinsverlust, wilde Bewegungen, keine vegetativen Phänomene wie Urin/Harnverlust, Zyanose, Pupillenstarre oder Speichelfluss. Oft finden psychogene/psychomotorische Affektkrämpfe im Kleinkindalter als „Wegschreien“ und vermehrt im Vorpubertätsalter als dramatische Szene vor Publikum und in subjektiven Stresssituationen mit Atemhyperventilation bis zur Bewußtlosigkeit statt. „Kurztest“: Abwehrversuch beim passiven Augenöffnen? oder: Beim Fallenlassen des hochgehaltenen Armes über dem Gesicht wird der Arm zur Seite gedreht!

Konvulsive Synkopen/Absencen 5-10 Sekunden/Pyknolepsie sind kurz-dauernde Bewusstseinsstörungen – jedoch mit schnellem Aufwachen nach dem Anfall. Zur klärenden Diagnostik und Gefahrenabwendung vor möglichen Verletzungen ist auch in diesen Fällen eine gezielte neuropädiatrische Diagnostik erforderlich.

Migräneanfälle – treten nicht selten vor dem starken Clusterkopfpfschmerz mit einer Aura von Schwindel, Unwohlsein auch Erbrechen auf- sind jedoch keine Epilepsie!

Therapie

Jeder epileptische Anfall ist für die Eltern ein dramatisch emotionales Ereignis und Bangen um die Gesundheit ihres Kindes. Neben den bereits erwähnten eigenen allgemeinen Notfallmaßnahmen erhält das Kind bei anamnestisch bekannter Diagnose unverzüglich die ärztlicherseits verordneten - immer plus Beipackzettel vorrätig! - krampflösenden Medikamente. Bei Fieberkrämpfen in der Regel „Diazepam rektal“ als Zäpfchen (nach Gewicht <15kg 5mg/>15 kg 10 mg) alternativ „Midazolam nasal“ über Zerstäuber oder „Midazolam buccal“ in die Wangentasche. Klingt der Krampfanfall nicht ab, stehen wirksame Medikamente dem Notarzt zur Verfügung insbesondere bei einem Übergang des Krampfes in einen Status epilepticus. Ein hartnäckiger „refraktärer“ Status erfordert nach Intubation bei Atemdepression oder Blutdruckabfall gelegentlich Kurzinfusionen mit stärker zentral wirksamen Antiepileptika bis hin zu einer Vollnarkose.

Geschichte und Prognose

In grauer Vorzeit bis ins 20. Jahrhundert wurden Menschen mit unerklärlich beängstigenden Krämpfen, Bewusstseinsstörungen, Demenz und Debilität häufig vom Familien- und Gesellschaftsleben ausgeschlossen. Entweder isoliert als „Günstlinge der Götter“ oder selbst in „christlichen“ Kulturen als vom Teufel Besessene, Aussätzige oder lebensunwerte Kreaturen angekettet, isoliert und oft bis zum Tod misshandelt. Die Langzeitprognose epileptischer Erkrankungen kann mit den Errungenschaften der modernen Medizin und einem zur Humanität korrigierten Menschenbild als beeindruckend positiv bezeichnet werden. Unverzichtbar sind dabei schon im frühen Kindesalter die frühzeitige Diagnosestellung und eine konsequente individuell spezifische Langzeittherapie der betreuenden Ärzte und Therapeuten in liebe- und verständnisvoller Umgebung.

 

Weitere Information zum Thema Krampfanfälle im Kindesalter

- Elternhilfsgruppen: kontakt@epilepsie-elternverband.de

Telefon: 0800 4422744

- „Unser Kind hat Epilepsie - Ratgeber für Eltern und Betroffene“

von Prof. Dr. Ulrich Brandl im Trias Verlag Stuttgart ISBN 978343247584

- Epilepsie im Internet: www.12minutes.de

„Hilfe für Eltern bei Kindernotfällen“ von Drs. Annalena und Lukas Dehe

 

Über den Autor

Dr. med. Josef Geisz
Dr. med. Josef Geisz
Kinder-Jugendarzt/Allergologie, Wetzlar

Bildergalerie

Aktuelle Ausgabe04.04.