Leben Hypochonder länger?

Die nicht begründete ständige Angst schwer krank zu sein wird als Hypochondrie bezeichnet.

Betroffene beobachten ihren Körper und ihre Empfindungen sehr kritisch und interpretieren jede noch so geringe Veränderung als Zeichen einer schweren Erkrankung. Kopfschmerzen werden so schnell zum Hirntumor gedeutet, ein Herzpochen ist gleich ein Infarkt und Frühjahrsmüdigkeit Ausdruck einer schweren neurologischen Erkrankung oder Krebs. Nach einer Statistik leidet jeder 20. mindestens einmal im Leben fälschlicherweise unter der Überzeugung schwer erkrankt zu sein. Das macht ihn aber noch nicht zum Hypochonder.

Die Hypochondrie gehört zu den Angststörungen, wird auch als Krankheitsangststörung bezeichnet.
Den Betroffenen drängen sich Krankheitsgedanken auf. Sie leiden unter dem Zwang, sich ständig überprüfen zu müssen. Somit hat die Störung Gemeinsamkeiten mit einer Zwangsstörung.
In der Medizin gibt es eine Definition für Hypochondrie. Diese setzt eine mindestens sechs Monate anhaltende Überzeugung schwer erkrankt zu sein, die anhaltende Beschäftigung mit der Krankheitsvorstellung, die Weigerung medizinische Ergebnisse zu akzeptieren, welche die Überzeugung widerlegen und den Ausschluss einer Schizophrenie oder affektiven Störung voraus. Die Hypochondrie ist eine ernsthafte Erkrankung, unter der Erkrankte leiden. Sie hat nichts mit einer gesunden achtsamen Körperwahrnehmung gemein oder damit bei Beschwerden ärztlichen Rat zu suchen.

Doch hat Hypochondrie auch Vorteile? In 2020 erschien das Buch: „Hypochonder leben länger: und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis“ von Jakob Hein. Hier wurde die These vertreten, dass durch kritische Selbstbeobachtung und häufige Arztbesuche Krankheiten früher erkannt und besser behandelt würden, weshalb Hypochondrie zu einer höheren Lebenserwartung führen würde. Aber stimmt das auch?

Im Journal der American Medical Association of Psychiatrie (JAMA Psychiatrie) wurde jüngst eine große Studie veröffentlicht, welche sich dieser Frage annimmt. Dazu wurden Gesundheits- und Sterbedaten von 41.290 Menschen über einen Zeitraum von 20 Jahren verglichen. Im Ergebnis war das Sterberisiko für Hypochonder im Beobachtungszeitraum um 84% höher als in der Kontrollgruppe nicht Erkrankter. Am auffälligsten ist der Unterschied bei der Todesursache Suizid. Die ist bei Hypochondern viermal häufiger. Auch Todesfälle durch Herz- Kreislauferkrankungen und Atemwegserkrankungen traten deutlich häufiger auf als bei Menschen ohne Krankheitsangststörung.

Wenn Hypochonder diese Zeilen lesen, könnten sie sich in ihren Ängsten bestätigt fühlen. Ist das nicht der Beweis für ihre Vorstellung kränker zu sein als von den Ärzten angenommen? Sind sie einfach zu wenig untersucht oder ihre Ärzte schlecht? Dem ist aber nicht so. Die Autoren der Studie weisen vielmehr auf eine starke Korrelation zwischen Hypochondrie und weiteren Angststörungen sowie Depressionen hin, bei denen ein erhöhtes Suizidrisiko bekannt ist. Ängste sind eine Form von Stress, Hypochondrie ist Dauerstress und Stress schadet der Gesundheit. Er kann das Immunsystem beeinträchtigen, einen erhöhten Alkoholkonsum begünstigen und schließlich das Herz- Kreislaufsystem schädigen. Einen Trost für Hypochonder fanden die Forscher noch heraus: In der Gruppe der Hypochonder wurde kein erhöhtes Auftreten von Krebserkrankungen gefunden.

Fazit:
Hypochondrie verlängert die Lebenserwartung nicht. Nicht die fälschlicherweise befürchteten Krankheiten, sondern die Hypochondrie selbst ist ein ernst zu nehmendes Problem, das sogar die Lebenserwartung verkürzen kann. Die Gründe für das Entstehen einer Hypochondrie können vielfältig sein. Gemeinsam ist ihnen, dass Hypochonder psychotherapeutische Hilfe benötigen. Denn sie sind wirklich krank: Ihre Krankheit heißt Hypochondrie.

Über den Autor

Dr. med. Roger Agne
Dr. med. Roger Agne
Chefarzt Innere Medizin
Dill-Kliniken

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