Warum wird man eigentlich dick?

Du musst einfach mal weniger essen und dich mehr bewegen, dann nimmst du auch ab.

Ich esse doch gar nicht mehr so viel und treibe Sport. Trotzdem nehme ich nicht ab.

Kennen Sie das? So könnte ein Gespräch zwischen „Ratgeber“ und Adipositas-Patienten ablaufen.

Warum nimmt man so einfach an Gewicht zu und nur schwer wieder ab?

Dies ist eine Frage, die seit vielen Jahren die Betroffenen genauso beschäftig, wie die Wissenschaftler, die sich mit der Erkrankung der Adipositas beschäftigen.

Das zugrundeliegende Denkmodell ist das Konstrukt der Energiebilanz. Es meint nichts anderes, als dass die Energiezufuhr idealerweise genauso groß sein muss, wie der Energieverbrauch.

Dies ist die Gleichung:

Energieaufnahme-Energieverbrauch=Veränderung der Körpermasse

Gegen diese Gleichung kann man eigentlich nicht sehr viel einwenden. Wenn man sie aber als Erklärungsmodell der Adipositas heranzieht, versagt sie auf einmal.

Die Gewichtszunahme ist vielmehr ein Ergebnis von vielen verschiedenen Stoffwechselveränderungen, die das Ziel einer Behandlung sein müssen. Durch diese Sicht auf die Erkrankung der Adipositas werden die Zusammenhänge zwischen Verhalten, Stoffwechsel und Gewichtsveränderung neu bewertet.

Ein Beispiel:

Patienten mit Adipositas leiden zunehmend unter einer Resistenz ihrer Zellen gegen Insulin. Dies stimuliert gleichzeitig Müdigkeit und Hungergefühl. Es ist dann nicht das Verhalten, das die Stoffwechselveränderung bewirkt, sondern die Stoffwechselveränderung, die sich auf das Verhalten auswirkt.

Es gibt noch andere Beispiele, die ich möglichst einfach erklären möchte, um das Verständnis für die Adipositas und für die Menschen, die unter dieser Erkrankung leiden, zu verbessern. Nicht zuletzt möchte ich gerade direkt Betroffenen die Zusammenhänge erläutern. Ich wünsche mir, dass damit die Frustration, die Enttäuschung und die Scham, die sich im Laufe der Erkrankung immer wieder einstellen, gerade, wenn einmal wieder der Versuch „endlich mal abzunehmen“ gescheitert ist, besser eingeordnet werden können.

Und ich wünsche mir wirklich, dass die vielen adipösen Menschen beginnen ihre Erkrankung als eine solche anzuerkennen und nicht als einen Zustand und ihre eigene Schuld.

Wenn Sie das geschafft haben, ist der Weg zu einer Beratung bei einer kompetenten Institution nicht mehr so weit.

Es gibt viele Hinweise, dass nicht nur die Menge der Kalorien sondern auch die Qualität wesentlich zu Übergewicht beitragen.

  1. Raffinierter Zucker und Getreide (schnelle Kohlenhydrate) werden durch das Insulin rasch ins Fettgewebe geschoben, wenn sie nicht gerade gebraucht werden. Dies bewirkt einen Mangel an Energie in allen anderen Geweben (Muskulatur, Leber, Gehirn, usw) und eine baldige Appetitsteigerung.
  2. Fruktose, bekannt aus den „leckeren Energie-Drinks“ benötigt zur Verstoffwechslung im Darm und in der Leber Unmengen an Energie. Diese fehlt dann in anderen Zellen. Es kommt zum so genannten „zellulären Hunger.“
  3. Gesättigte Fettsäuren (Palmitin, Stearin) überwinden direkt die Blut-Hirn-Schranke und reichern sich in der Hirnanhangsdrüse (Der oberste Steuermechanismus für alle Hormone) an. Dort blockieren sie wichtige Rückkopplungsmechanismen zur Gewichtsregulation.
  4. Jede Kalorienreduktion führt zu einer Erhöhung der Energieaufnahme. Schließlich möchte der Körper sein Gewicht behalten. So wird das Hungerhormon Ghrelin aus dem Magen freigesetzt. (Bei einer Operation wir der Teil des Magens, der Ghrelin produziert ausgeschaltet.)
  5. Ebenso werden Sättigungshormone (GPL-1 und andere) aus dem Dünndarm gedrosselt. (An dieser Stelle greifen die modernen Adipositasmedikamente Liraglutid und Semaglutid an.)
  6. Eine Gewichtsabnahme und/oder hohe körperliche Aktivität bewirken eine Umverteilung des Energiehaushaltes. Der so genannte „Ruheumsatz“ (das ist die Basisversorgung der Organe und die nahrungsabhängige Wärmeproduktion) konkurriert mit dem Energieverbrauch für körperliche Aktivitäten und der Wärmeregulation. (Bei Kälte oder Wärme) Man darf sich also nicht wundern, wenn man bei körperlicher Aktivität nicht rasch abnimmt, sondern eventuell beginnt zu frieren oder nach einer Anstrengung seinen Magen entleert. Konkurrenz gibt es einfach überall. Dieses Denkmodell erklärt auch einfach, warum jemand, der erkrankt ist, keine körperlichen Aktivitäten schafft. Der „Ruheumsatz“ ist in diesem Moment der Chef.

Während Überernährung kaum zu einer gesteigerten körperlichen Aktivität führt, um sie zu kompensieren, führt eine gesteigerte Aktivität sehr wohl zu einer gesteigerten Kalorienaufnahme. Zumindest zu einem gesteigerten Bedarf.

Deswegen ist zunehmen auch einfacher als abnehmen.

Das war jetzt kompliziert und so ganz genau muss das auch niemand verstehen. Ich finde es trotzdem wichtig, manchmal etwas tiefer in Sachverhalte einzutauchen und sie wissenschaftlich zu erklären. Dies täte nicht nur in der Medizin allen gut. Es sind komplizierte Stoffwechselvorgänge, die unser Körpergewicht regulieren.

Sich einzubilden, alles sei „Kopfsache“ oder „eine Frage des Willens“ ist Blödsinn. Unser Großhirn kann nicht alles, was wir von ihm verlangen.

Trotzdem beginnt die Bekämpfung der Erkrankung „Adipositas“ mit dem Kopf und dem Willen. Ohne dies geht es nun einmal nicht.

Die letzte Botschaft:

Nehmen Sie Kontakt mit einer Adipositas-Beratung oder einer Selbsthilfegruppe auf, wenn Sie Probleme haben.

Haben Sie keine Angst.

Über den Autor

Dr. med. Thomas Friedrich-Hoster
Dr. med. Thomas Friedrich-Hoster
Ehemaliger Leitender Oberarzt Allgemeine, Viszerale und Onkologische Chirurgie Klinikum Wetzlar
Ärztlicher Leiter des Adipositaszentrum

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