Adipositas – Zukünftige Entwicklung in Deutschland
In der BRD ist es nach wie vor extrem schwierig für einen Erkrankten eine geeignete Behandlung zu bekommen. Dies hat viele Gründe, die zum Teil an dem mangelhaften Bewusstsein liegen, dass Adipositas überhaupt eine behandlungsbedürftige Erkrankung ist. Darüber hinaus gibt es aber auch massive wirtschaftliche Interessen der Krankenkassen, die nicht bereit sind, die beste Therapie für einen Patienten zu bezahlen. Ebenso gibt es die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Nahrungsmittelindustrie (Zuckerlobby) für die beispielsweise bereits das Werbeverbot für Süßigkeiten, welches Kinder schützen soll, ein Problem darstellt. Obgleich die Mehrheit der Bürger in Deutschland ein solches Verbot befürwortet, wird ein entsprechendes Gesetz politisch blockiert. Die Begründungen dazu sind vielleicht nachvollziehbar aber keinesfalls am Wohl unserer Kinder orientiert.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass die mit Abstand beste Behandlung der Adipositas die Vorbeugung und damit der Schutz unserer Kinder vor Süßigkeiten und zu hochkalorischer Fehlernährung ist. Ein Kind, welches mit 12 Jahren zu dick ist, hat statistisch kaum eine Chance mit 20 Jahren ein normalgewichtiger Erwachsener zu sein. Dies ist eine Tatsache.
Es gibt noch ein weiteres Problem grundsätzlicher Art:
Obgleich die WHO längst die Adipositas als Erkrankung anerkennt, obgleich die Adipositas längst in den Abrechnungsziffern der Ärzte verankert ist, gilt sie in unserem Gesetz (Sozialgesetzbuch (SGB) V) nicht als Erkrankung. Aus diesem Grund sind die Krankenkassen auch nicht verpflichtet, diagnostische und therapeutische Maßnahmen für die Indikation „Adipositas“ zu finanzieren.
Trotz dieser schlechten Bedingungen gibt es Gründe zur Hoffnung. Diese Hoffnung basiert auf technischen Innovationen, neuen Medikamenten, digitalen Programmen und politischen Entscheidungen.
Interventionelle Adipositas-Therapie
Darunter werden Eingriffe verstanden, die bei schwerer Adipositas eingesetzt werden können. Bisher gab es die von mir bereits mehrfach an dieser Stelle vorgestellten Operationsverfahren. Ohne Rücksicht auf das Grundsatzurteil des Bundes-Sozialgerichts von 2003 werden solche Eingriffe in der BRD viel zu selten durchgeführt, weil die Krankenkassen hohe Hürden aufgebaut haben. Die BRD ist das Land mit den wenigsten Eingriffen und mit dem höchsten Body-Mass-Index zum OP-Zeitpunkt in Europa. Auch dies ist keine Meinung, sondern eine Tatsache.
Jetzt ist eine Methode entwickelt worden, bei der während einer Magenspiegelung durch „inwändige“ Nähte der Magen verkleinert werden kann. Diese Methode ist nicht so effektiv wie eine Operation. Sie schließt aber eine Lücke zwischen den rein konservativen Maßnahmen (Multimodale Therapiekonzepte) und den Operationen. Die ESG (Endoskopische-Schlauchmagen-Gastroplastik) ist ein spannendes Verfahren, welches seine Effektivität noch beweisen muss. Wir können gespannt sein, wie sich die Krankenkassen verhalten werden, wenn die Rechnungen kommen.
Gewichtssenkende Medikamente
Die mit Abstand größte Aufmerksamkeit sowohl in der Fachwelt wie auch in der Bevölkerung haben die neuen gewichtsreduzierenden Medikamente Wegowy (Semaglutid) und Mounjaro (Tirzepatid) erhalten. Die beiden Wundermedikamente sind eigentlich zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 gedacht, haben aber den Nebeneffekt der deutlichen Gewichtsreduktion. Obgleich beide Medikamente inzwischen in der BRD für die Behandlung der Adipositas zugelassen sind, (verschreibungspflichtig) sind sie nicht von den Krankenkassen „erstattungsfähig“. §34 SGB V schließ so genannte „Lifestyle-Medikamente“ von der Erstattungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen aus. Nicht mehr zeitgemäß – aber wen interessiert das schon. Immerhin will der Hersteller von Mounjaro in Rheinland-Pfalz ein Werk zur Herstellung des Medikamentes bauen.
DMP (Disease-Management-Programm)
Seit dem November 2023 gibt es ein nach – wen wundert es eigentlich noch – heftigen Auseinandersetzungen zwischen Krankenkassen und Ärzte- und Patientenvertretern ausgehandeltes DMP für die Erkrankung Adipositas. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es gibt nicht nur einen Pferdefuß:
Das im Beschluss stehende Schulungs- und Behandlungsprogramm, das jedem Menschen mit einem BMI von über 30 kg/m2 zustehen soll, muss selbstverständlich wissenschaftlich evaluiert sein. Da diese Programme bisher nicht finanziert waren und dementsprechend keine Studien vorliegen, wird es natürlich schwierig dies umzusetzen. Außerdem müssen die Entscheidungen auf Länderebene zwischen den Landesärztekammern, den regionalen KVen und den Krankenkassen erneut ausgehandelt werden.
Fazit: Vielleicht kommt etwas – in jedem Fall dauert es noch etwas.
Ernährungsberatung
Eine Möglichkeit, die immer noch viel zu wenig genutzt wird, ist die Ernährungsberatung durch die gut ausgebildeten zertifizierten Ernährungsfachkräfte, die es in der BRD gibt. So ist es mit einer „ärztlichen Notwendigkeitsbescheinigung“ (§43 SGB V) möglich diese Leistung für die „Indikation Adipositas“ zu bekommen. Allerdings ist dabei für die Betroffenen ein Eigenanteil von 25% selbst zu tragen, was die Maßnahme für viele Betroffene, die häufig sozial benachteiligt sind, problematisch macht.
Digitalisierung – DiGAs
Seit Verabschiedung des „Digitalen-Versorgungs-Gesetzes“ (DVG 2019) hat Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal weltweit. Es sind die so genannten DiGAs. Damit sind Apps und Web-Anwendungen gemeint, die der Überprüfung vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte unterzogen wurden. Eine DiGA ist somit ein echtes Medizinprodukt, genauso, wie eine Tablette.
Zwei DiGAs für die Behandlung der Adipositas sind offiziell gelistet. Somit kann Ihnen die DiGA verschrieben werden. Sie sind budgetneutral (Muster 16) für Ärzte und Ärztinnen zu verordnen. Die Kosten müssen laut §33a des SGB V vollständig von den Krankenkassen übernommen werden.
Beide DiGAs enthalten ein multimodales Basisprogramm, wurden in Studien bereits untersucht und bewirken eine deutliche Gewichtsabnahme. Es handelt sich um
Zanadio – Hersteller: „Sidekick Health Germany GmbH“ und
Oviva Direkt – Hersteller: „Oviva AG“.
Beide Apps haben die gleiche Anwendungsdauer von 90 Tagen.
Es ist seit Jahren bekannt, und auch aktuell bei der Entwicklung des DMP-Adipositas erneut sichtbar geworden, dass die Krankenkassen nur ein geringes Interesse an einer Verbesserung des Betreuungs-angebotes für adipöse Patienten haben. Die Gründe sind naheliegend, da sie mit erheblichen Kostensteigerungen verbunden sind. Dass mit einer frühzeitigen und effektiven Behandlung der Erkrankung die Nachfolgekosten (Behandlung Diabetes etc) gesenkt werden, fällt bei dieser Sicht auf die Situation unter den Tisch. Hier wäre ein Umdenken bei den Kassen längst sinnvoll.
Denn es gibt noch eine weitere Tatsache:
Der Prävention und der Behandlung der Adipositas kommt eine wesentliche Schlüsselrolle in der Gesundheit der Bevölkerung zu.
Da wir die oben genannten Dinge nicht beeinflussen können, schicke ich Ihnen hier noch einmal ein paar Gedanken zu den individuellen Möglichkeiten im Umgang mit Adipositas:
- Denken Sie an Ihre Kinder und vermeiden Sie zu viele Süßigkeiten. Je jünger ein Kind ist, wenn es an Adipositas erkrankt, umso schlimmer ist es.
- Reduzieren Sie den Zucker, wo immer es geht. Fruchtsäfte und Soft-Drinks sind echte Killer. 35 kg Zucker pro Kopf und Jahr (32 Stück Würfelzucker pro Tag - Bundesdeutscher Durchschnitt) sind zu viel.
- Lassen Sie sich beraten. Bei Ihrer Hausärztin oder -arzt, in einem Adipositaszentrum oder bei einer Ernährungsfachkraft. Auch eine Selbsthilfegruppe kann beratend wirken. Dort sitzen Profis. Die SHG ermöglicht das unglaublich wichtige Gespräch mit anderen von der Erkrankung Betroffenen. Es ist durch nichts zu ersetzen. Häufig ist es für die Teilnehmer einer SHG das erste Mal, dass sie sich in ihren Problemen wirklich verstanden fühlen.
In Wetzlar gibt es im „Kerngesund“ eine Selbsthilfegruppe, die sich über Ihren Anruf freut. Kontakt: bianca_hauschke@web.deTel: 01590-1210778
Über den Autor
Ehemaliger Leitender Oberarzt Allgemeine, Viszerale und Onkologische Chirurgie Klinikum Wetzlar
Ärztlicher Leiter des Adipositaszentrum