
Adipositas – eine Life-Style-Erkrankung
Was ist eigentlich eine Life-Style-Erkrankung, was ist Life-Style-Medizin?
Unter dieser Bezeichnung könnte man leicht eine Medizin verstehen, die sich um den aktuellen Lebensstil dreht, also den Lebensstil, der sich besonders auf die eigene Individualität bezieht. Die persönliche Individualität, die Freiheit, das tun zu können, was man möchte, ist in den letzten Jahrzehnten zu unserer Lebensidee geworden und wird versucht im individuellen Lebensstil anzustreben. „Finde Deinen Style …“ sagt uns die Werbung. Ob dies so sinnvoll ist oder ob es nicht in einer komplexen Gesellschaft mehr darauf ankommt, Gemeinsamkeiten zu entwickeln mit denen sich viele Menschen identifizieren können und ein gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehen kann, sei dahingestellt.
„Life-Style“ in dem oben formulierten Sinn hat in jedem Fall etwas Leichtes und Unbeschwertes. Er wird erst möglich, wenn eine friedliche, sichere und liberale Gesellschaft und eine demokratische Staatsform diesen ermöglichen. In letzter Zeit lernen wir gerade schmerzhaft durch die Folgen der Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine, dass es wichtigere Dinge gibt als unseren individuellen Lebensstil.
Oberflächlich gesehen wird der moderne Life-Style heutzutage vor allen Dingen bestimmt durch unser Aussehen, durch das Bild, welches wir nach außen abgeben und welche Wirkung wir erzeugen. Er wird entsprechend stark bestimmt durch die Bilder, die wir jeden Tag in den Medien und in der Werbung sehen können. Aber ganz egal, wodurch der moderne Life-Style bestimmt wird, er prägt unser Leben. Und er bestimmt in hohem Maße unsere Zufriedenheit, denn wir müssen uns irgendwie an ihn anpassen. Schaffen wir die Anpassung nicht, werden wir zu Außenseitern.
Aber diese Sicht auf die Life-Style-Medizin ist nicht richtig. Sie beschreibt nur eine winzige Facette. Es geht um etwas völlig anderes.
Die Life-Style-Medizin beschäftigt sich mit Krankheiten, die durch unseren Lebensstil entstanden sind und durch ihn gefördert werden. Life-Style-Medizin hat es zu allen Zeiten bereits gegeben nur wurde diese Medizin niemals so bezeichnet.
Als die Menschen vor etwa 10 000 Jahren sesshaft wurden und begannen Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, haben sie dadurch ihren Lebensstil grundlegend verändert. Die Bevölkerung wuchs rasant und in den größer werdenden Dörfern und Städten hatten Seuchen, die vorher kaum eine Rolle spielten, auf einmal freie Bahn.
Life-Style-Medizin – Seuchenbekämpfung – hätten Sie das gedacht?
Die „Erfindung“ der Zigaretten und die durch die Industrie massiv betriebene Werbung änderte unseren Lebensstil massiv. Die Angewohnheit des Rauchens erzeugte Volks-krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Lungenkrebs, die es vorher in diesem Ausmaß nicht gegeben hatte. Schaut man also einmal genau hin, fällt auf, dass die wichtigsten Erkrankungen unserer Zeit so genannte „Life-Style-Erkrankungen“ sind.
Auch die Adipositas-Erkrankung gehört in diese Gruppe. Interessant ist nun bei der Adipositas, dass sie einerseits eine chronische, körperliche Erkrankung ist, und so stark über die ganze Welt verbreitet ist, dass man inzwischen von einer „Adipositas-Pandemie“ spricht. Sie ist verantwortlich für viele tausend Todesfälle pro Jahr und hat aufgrund von Arbeitsausfällen und Frühberentungen eine ernste sozialpolitische Relevanz.
Andererseits macht die Adipositas die Menschen gewissermaßen zu Außenseitern, da sie nicht in das gewünschte Bild (jung – schlank – sportlich – gesund) passen, welches, wie oben gesagt, erheblich durch unser Aussehen bestimmt wird.
Dieser doppelte Blick auf die Adipositas mag ein Grund dafür sein, dass sie häufig immer noch nicht als ernste Erkrankung anerkannt, sondern als ein „Life-Style-Problem“ individualisiert und somit als etwas Harmloses angesehen wird. Auch die Meinung, sie sei durch „… etwas weniger Essen …“ und „… etwas mehr Bewegung …“ zu beseitigen, zielt in diese Richtung und wird der Komplexität der Erkrankung nicht gerecht.
Aber ist die Behandlung der Adipositas nur legitim, wenn sie eine „schwere, chronische, körperliche Erkrankung“ ist? Oder muss das „Life-Style-Problem“ der sozialen und psychischen Belastung nicht genauso ernst genommen werden?
Interessanterweise leiden adipöse Menschen im persönlichen Empfinden eher an den sozialen Begleiterscheinungen der Erkrankung als an den ernsten medizinischen Folgen wie Diabetes Mellitus, Herzinfarkt oder Hypertonie. Sie sind unglücklich über ihre Erscheinung und empfinden sie in ihrer Gesamtheit als Makel. Man nennt dies eine Stigmatisierung. Sie kann dazu führen, dass sich Menschen von anderen weniger akzeptiert und respektiert fühlen oder sich sogar ausgeschlossen fühlen. Dies bewirkt, dass sich die Menschen schämen und sich weniger wert fühlen. Viele Menschen ziehen sich dann zurück, besuchen keine Veranstaltungen mehr (Theater, Kino…) und schränken aktiv ihre sozialen Kontakte ein. Eine depressive Entwicklung ist dann vorprogrammiert.
Auch dieser Mechanismus ist ein Aspekt der Life-Style-Erkrankung. Durch unseren Lebensstil, den ich oben beschrieben habe, wird die Ausgrenzung bewirkt. Man muss sich nur einmal für sich selbst vorstellen, unter einem „sichtbaren Makel“ zu leiden. Es geht nämlich nicht um den Makel an sich, sondern um das, was er bewirkt im sozialen Zusammenleben, im Life-Style“ unserer Gesellschaft, zu dem wir alle beitragen. Es geht um die Stigmatisierung und Ausgrenzung eines Menschen durch einen Makel. Diese ist kaum durch eine Psychotherapie des Stigmatisierten zu beseitigen. Man könnte sich andere Gesellschaften vorstellen, in denen Adipositas ein Idealzustand sein könnte und keine Stigmatisierung und Ausgrenzung stattfinden würde. In unserer Gesellschaft findet sie jedenfalls statt.
Entsprechend ist die psycho-soziale Misere, in der die Betroffenen stecken, nicht mit Psychotherapie zu heilen, sondern höchstens zu verbessern. Psychotherapie kann den Weg für die Betroffenen öffnen, über die Probleme der Ausgrenzung, wie Einsamkeit, Scham und Angst, zu sprechen. Der erste Weg zur Behandlung der Adipositas ist diese Öffnung gegenüber anderen. Der erste Weg aus der inneren Isolation ist das Gespräch. Erst dann kann die Behandlung der Erkrankung sinnvoll beginnen. In Einsamkeit und Verzweiflung durchgeführte Diätprogramme sind meistens nicht zielführend, sondern mit Frustrationen und Enttäuschungen verbunden.
Besonders wichtig ist das Gespräch mit anderen Betroffenen. Dort findet jede/r Patient/in die Akzeptanz, das Verständnis und die emotionale Sicherheit, die weitere Schritte der Behandlung erst ermöglichen.
Die Selbsthilfegruppe am Klinikum ist eine solche Möglichkeit des gegenseitigen Austauschs.
Nehmen Sie Kontakt mit einer Adipositas-Beratung oder einer Selbsthilfegruppe auf, wenn Sie Probleme haben. Haben Sie keine Angst.
Kontakt:
bianca_hauschke@web.de
Tel: 01590-1210778
Über den Autor

Ehemaliger Leitender Oberarzt Allgemeine, Viszerale und Onkologische Chirurgie Klinikum Wetzlar
Ärztlicher Leiter des Adipositaszentrum