Ist unser Gesundheitssystem teuer und schlecht?
Ein Faktencheck


In Zeiten einer großen Gesundheitsreform können wir an vielen Stellen lesen, die Reform sei nötig weil unser Gesundheitssystem zu teuer und dabei auch noch schlecht sei. Als Argumente werden dann regelmäßig eine niedrige Lebenserwartung bei vergleichsweise hohen Kosten genannt. Aber stimmt das überhaupt. Ein Faktencheck.
1. In Deutschland stirbt man früher
Statistisch beträgt die Lebenserwartung in Deutschland 81,1 Jahre. Im EU Durchschnitt sind es 81,5 Jahre. In Spanien (84 Jahre),  Italien (83,8), Frankreich (83,1) und dem nicht EU-Land Schweiz (84,2 Jahre) ist die Lebenserwartung jeweils deutlich höher (Quelle: statista.com). Die vergleichsweise niedrigere Lebenserwartung in Deutschland wird in politischen Meinungsäußerungen häufig als Beleg für ein schlechtes Gesundheitssystem herangezogen. Aber ist das wirklich so einfach?  
Unsere häufigsten Todesursachen sind Herz-Kreislauferkrankungen (33,9%) und Tumorerkrankungen (22,4%, Quelle: Statistisches Bundesamt). Da diese Erkrankungen die größte Relevanz für die Fragestellung haben, sollen sie im Folgenden statistisch dargestellt werden.
Herz-Kreislauferkrankungen: Faktencheck Herzinfarkt
In Deutschland sterben prozentual mehr Menschen an einem Herzinfarkt als in den o.g. Vergleichsländern (Schweiz, Frankreich, Italien, Spanien). Die jährliche Herzinfarktsterberate ist in Frankreich mit 65 / 100.000 Menschen am niedrigsten und liegt in Deutschland bei 157 / 100.000.
Die Wahrscheinlichkeit an einem Herzinfarkt im Krankenhaus zu sterben unterscheidet sich aber in den o.g. Ländern nicht und liegt bei ca. 5-6 %. Kommt es zu einem Herzstillstand mit Reanimation außerhalb eines Krankenhauses überleben in Deutschland ca. 13,5%, in Frankreich ca. 4,9% der Patienten (Quelle: reanimationsregister.de). Die Zahl der Herzkatheteruntersuchungen ist in Deutschland höher als in den meisten anderen Ländern. Jedoch gibt es in unserem Land auch mehr Herzinfarkte als in den o.g. Vergleichsländern. In Deutschland beträgt die Zahl der jährlichen Herzinfarkte pro 100.000 Einwohner 339, in der Schweiz und Frankreich liegt sie bei unter 200. Ursache der hohen Zahl von Herzinfarkttoten in Deutschland ist eine vergleichsweise hohe Zahl von Herzinfarkten die trotz guter medizinischer Versorgung mehr Todesfälle bedingt.
Bei der Zahl der Todesfälle durch Schlaganfall liegt Deutschland hinter Frankreich, aber vor Spanien und Italien. Vergleichsdaten zur Häufigkeit von Schlaganfällen liegen mir leider nicht vor.
Tumorerkrankungen
Die Zahl der Krebserkrankungen ist in Deutschland mit 668 (pro Jahr und 100.000 Einwohner) höher als im EU-Durchschnitt (569). Die Überlebensraten bei Krebserkrankungen sind in Deutschland hingegen besser als im EU-Durchschnitt (Quelle: OECD-Bericht Länderprofile Krebs 2023). Eine schlechte gesundheitliche Versorgung lässt sich aus diesen Zahlen nicht herauslesen. Das Problem ist vielmehr die hohe Zahl von Tumorerkrankungen.
Warum haben wir so viele Herz-Kreislauf- und Tumorerkrankungen?
Die größten bekannten und von uns selbst beeinflussbaren Risikofaktoren für ein frühes Lebensende sind Übergewicht, Nikotin, Alkohol und Bewegungsmangel. Sie erhöhen das Risiko für alle Herz-Kreislauf-Erkrankungen und für viele Tumorerkrankungen. 
Wie steht Deutschland hier im Vergleich zu seinen Nachbarländern?
Übergewicht (Adipositas)
Im EU-Durchschnitt sind 15,9% der Menschen übergewichtig. In Deutschland sind es 16,9, in Frankreich 9,7, der Schweiz 12,1, Spanien 15,7 und in Italien 17,3. 
Alkohol
Der durchschnittliche Konsum pro Kopf und Jahr beträgt in Deutschland EU 12,2 Liter reinen Alkohol,  in Frankreich 11,3, Spanien 10,9, der Schweiz 10,4 und Italien 8. Unter den genannten Ländern hat Deutschland den höchsten Alkoholverbrauch.
Nikotin
Gemessen an den verkauften Zigaretten pro Einwohner liegt Deutschland in einer Rankingliste auf Platz 30, deutlich schlechter als viele andere Länder, darunter Spanien, Italien und die Schweiz.
Fazit
Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland liegt leicht unter dem EU-Durchschnitt und ist deutlich niedriger als in der Schweiz, Spanien, Italien und Frankreich. Schuld daran sind nicht Krankenhäuser, Praxen oder Ärzte. Die Qualität der medizinischen Versorgung ist nicht schlechter als in anderen europäischen Ländern, meist sogar besser. 
Die unangenehme Wahrheit ist vielmehr, dass in Deutschland der Anteil von Menschen mit ungesunden Verhaltensweisen, Übergewicht, dem Konsum von Nikotin und Alkohol größer sind als in vielen anderen Ländern. Als Folge treten vermehrt Herz-Kreislauf- und auch Tumorerkrankungen auf, was sich auch bei guter Medizin statistisch ungünstig auf die mittlere Lebenserwartung auswirkt.
2. Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen
Die Ausgaben für unsere Krankenhäuser habe sich in den letzten 30 Jahren fast verdreifacht, sind also kräftig gestiegen. Das alleine sagt natürlich wenig aus, zumal wir 1994 noch in einer DM-Welt lebten und zwischenzeitlich alles teurer wurde. Ein Kilogramm Brot kostete vor 30 Jahren ca. 1,18 € (2,30 DM)  eine Kugel Eis 0,25 € (0,50 DM), ein Liter Superbenzin 0,77 € (1,50 DM) und eine Kilowattstunde Strom 17 Pfennig (0,087 €). Der Durchschnittspreis für einen VW-Golf betrug 1993 € 9.200 (18.000 DM) , heute liegt er bei ca. 30.000 €. Nun mag man einwenden, dass ein heutiger Golf technisch und in der Ausstattung nicht mehr der von 1994 ist. Aber trifft das nicht auch für unsere Krankenhäuser zu? Die medizinischen Möglichkeiten und Leistungen einschließlich teuren Großgeräten sind auf einem völlig anderen Stand als 1994. Zudem werden in den Kliniken heute vielmehr Patienten behandelt werden als damals. 
Nun wird gerne argumentiert, dass die Gesundheitskosten in anderen Ländern niedriger sind als bei uns. Solche Vergleiche sind schwierig, weil hier häufig Äpfel mit Birnen verglichen werden. In Deutschland werden die Kosten der Gesundheitsversorgung im Wesentlichen aus den Beträgen der gesetzlichen und privaten Krankenkassen finanziert. Kliniken und Praxen behandeln sowohl gesetzlich als auch privat Versicherte. In anderen Ländern ist das nicht so. Meist gibt es neben dem öffentlichen Gesundheitssystem noch ein privates mit Privatkliniken, Privatambulanzen und -praxen. 
Das sind auch Gesundheitskosten, die aber am System vorbeilaufen bei den Vergleichen meist unberücksichtigt bleiben.
Beispielsweise liegen die Gesundheitskosten im staatlichen britischen System (NHS) bei jährlich ca. 3352 € pro Person gegenüber 4931 € in Deutschland. Dafür gibt es in Großbritannien keine freie Arztwahl, häufig Wartezeiten von über einem Jahr für Operationen und eine altersdiskriminierende Priorisierung von Leistungen, die dazu führt, dass älteren Menschen Operationen an Gelenken oder dem Herzen nicht selten verweigert werden. Daneben gibt es Privatkliniken, welche für privates Geld fast alles anbieten. 15% der Briten leisten sich eine private Zusatzversicherung für Leistungen außerhalb des staatlichen Systems. Wollen wir das bei uns auch so haben?
Die Frage, ob unser Gesundheitssystem zu teuer ist, lässt sich nicht objektiv beantworten. Die Bewertung hängt davon ab, welche Leistungen uns wichtig sind und was uns das Wert ist bzw. welche Prioritäten wir in unserem Leben setzen. Ich bezweifele, dass der bevorstehende Abbau von Kliniken und Arztpraxen Kosten einspart. Die Preise für Gesundheitsleistungen ändern sich nicht durch eine Anbieterverminderung. Damit Kosten gespart werden, müssten Leistungen reduziert werden. Das bedeutet aber nichts anderes als eine Rationierung. Im Klartext: Den Menschen wird etwas von ihrer Versorgung weggenommen. Das sollte dann auch ehrlich ausgesprochen werden. Es ist eine absurde Illusion, zu glauben, der zu erwartende Abbau von Infrastruktur würde die Qualität der Versorgung verbessern. Ebenso gut könnte man denken, der Stilllegung von Schienenstrecken hätte die Qualität der Bahn verbessert.
Zum Schluss noch eine skurrile Randnotiz: Die meisten 100jährigen und die höchste Lebenserwartung in Europa findet man in  Ostsardinien. Das ist eine ländliche Region ohne Universitätskliniken mit nur kleinen Krankenhäusern und geringer Arztdichte.

Wenn das Herr Lauterbach wüsste.

 

Über den Autor

Dr. med. Roger Agne
Dr. med. Roger Agne
Chefarzt Innere Medizin
Dill-Kliniken

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