
Blutegel – der Heiler aus dem Teich
Frau W. ist verzweifelt. Seit 4 Monaten schmerzt ihr Daumengrundgelenk so sehr, dass sie kaum noch Autofahren kann. Der Orthopäde hatte ihr eine Schiene und Schmerztabletten verordnet. Ihren Beruf als Physiotherapeutin kann sie nur noch mit Einnahme dieser Schmerzmittel ausüben, aber mittlerweile leidet sie unter Magenschmerzen, typische Nebenwirkung der Tabletten. Flaschen kann sie schon seit Wochen nicht mehr aufdrehen. Auch eine mehrfache Bestrahlung des Daumens hat die Schmerzen nicht gelindert und nun soll der Daumen operativ behandelt werden. Auf Empfehlung einer Freundin kommt sie jetzt zur Planung einer Blutegeltherapie als „letzte verzweifelte Möglichkeit, um die Operation noch etwas herauszuschieben“, wie sie selber sagt. Sie bringt die Röntgenbilder des Orthopäden und aktuelle Laborbefunde (Blutbild und Gerinnung) mit, die Therapie wird in einem ausführlichen Aufklärungsgespräch besprochen und für den Folgetag vereinbart. Vier Blutegel werden am nächsten Tag auf das aufgetriebene schmerzhafte Gelenk gesetzt, sägen sich innerhalb von Minuten einen winzigen Zugang durch die Haut und beginnen zu saugen. Nach einer Stunde fallen die Tiere vollgesogen nacheinander von selber ab, aus den kleinen sternförmigen Bissstellen sickert Blut. Ein saugstarker Verband wird angelegt, jetzt soll die Hand noch zwei Tage ruhig gehalten werden. Bis auf einen Juckreiz im Bereich der Bisse hat Frau W. keine Nebenwirkungen. Aber in der nächsten Woche berichtet sie strahlend, dass das Daumengelenk nahezu beschwerdefrei ist und sie wieder ohne Medikamente arbeiten kann.
Mittelalterlicher Hokuspokus?
Die Blutegeltherapie gilt für viele Menschen heute als ein überholtes Verfahren aus dem Mittelalter. Weit gefehlt, die Egeltherapie ist zum einen schon bedeutend älter als das Mittelalter und gewinnt zum anderen seit etlichen Jahrzehnten wieder zunehmend an Bedeutung für die Behandlung verschiedener Krankheitsbilder. Der Egel wird in der Medizin seit Jahrtausenden als sogenanntes ausleitendes Verfahren angewendet und war in ganz verschiedenen Kulturen als Heilmittel anerkannt und verehrt. So hat z.B. der mythische Arzt der Götter in der ayurvedischen Medizin Asiens in dreitausend Jahre alten Darstellungen in einer seiner vier Hände einen Blutegel, zeitgleich finden wir Darstellungen von Egeltherapien in Pharaonengräbern. In Mitteleuropa haben wir schriftliche Zeugnisse zur Egeltherapie bei Griechen und Römern schon ab 150 v. Christus.
Jahrhundertelang wurde die therapeutische Wirkung der Egeltherapie ausschließlich der Ausleitung durch den Blutverlust zugeschrieben. In diesen Zeiten war der Aderlass neben dem Klistier einer der Hauptpfeiler im therapeutischen Repertoire der Heiler und der Blutegel ermöglichte einen langsamen, sanften Aderlass über viele Stunden am Ort der Beschwerden, während der konventionelle Aderlass durch die Klinge nur über große Blutgefäße und schlecht gesteuert erfolgen konnte.
Breites Wirkspektrum
Heute können wir ein viel breiteres Wirkspektrum des Blutegels belegen. Der Egel gibt während des Saugvorgangs, der 30-60 Minuten dauern kann, seinen Speichel in die Wunde ab. In diesem Speichel sind über hundert bioaktive Substanzen, die dem Egel die sichere Nahrungsaufnahme und die Verdauung ermöglichen. Erfreulicherweise wirken diese Substanzen hilfreich beim Wirtstier, dem Patienten. Und auch wenn die Wunde durch den Egelbiss nur etwa 1,5mm tief ist, geht die Wirkung viel tiefer ins Gewebe, denn der Speichel wirkt lytisch im Extrazellularraum durch Enzyme wie Kollagenase und Hyaluronidase. Andere Stoffe wirken direkt schmerzlindernd und entzündungshemmend. Damit sind z.B. schmerzhafte Gewebsverklebungen bei Verspannungen oder Narben eine hervorragende Indikation für eine Egeltherapie.
Hemmung der Blutgerinnung
Eine wichtige Wirkung ist die Hemmung der Blutgerinnung und auch das Auflösen schon bestehender Gerinnsel (u.a. durch Hirudin, Calin, Saratin), damit sind Blutegel eine sehr gute Therapie bei großen Blutergüssen oder bei venöser Stase nach Gewebstransplantationen oder -rekonstruktionen. Diese Wirkstoffe führen auch zu der bis zu 24 Stunden anhaltenden Nachblutung, keine Komplikation, sondern eine erwünschte Nachwirkung. Messbar verbessert sind im Gewebe nach der Behandlung der Blutfluss, der Lymphfluss und der Sauerstoffgehalt. Damit ergeben sich weitere Einsatzmöglichkeiten wie zum Beispiel Wundheilungsstörungen, akute und chronische Entzündungen im Bereich von Sehnen und Muskulatur. Praktisch sofortige Entlastung schafft der Egel bei Analvenenthrombose und Hämorrhoiden.
Ein klassisches und durch Studien gut belegtes Anwendungsgebiet ist die Arthrose, sowohl an kleinen (z.B. Fingergelenken) als auch an großen Gelenken (wie dem Kniegelenk). Häufig sind Patienten wie Frau W. vorher monatelang unter Therapie mit Schmerzmitteln mit zahlreichen Nebenwirkungen und haben trotzdem erhebliche Einschränkungen im Alltag. Hier kann mit der Egeltherapie oft deutliche Symptomerleichterung mit verbesserter Funktionalität erreicht werden.
Rechtlich ist der Blutegel in Deutschland ein apothekenpflichtiges „humanes Fertigarzneimittel“, in den U.S.A. ein „Medizinprodukt“. Die Blutegel, die heute in der Medizin eingesetzt werden, gehören in Deutschland fast ausschließlich der Spezies Hirudo verbana an. Die Egel verbringen den überwiegenden Teil ihres Lebens im Wasser, in dem sie sich delphinartig schwimmend fortbewegen. Sie können sich jedoch auch problemlos an Land aufhalten, solange sie nicht austrocknen. Hier bewegen sie sich mit Hilfe ihrer Saugnäpfe an Vorder- und Hinterende beeindruckend athletisch fort.
Vor der Anwendung als Arzneimittel ist eine 8-monatige Quarantäne der Egel ohne Nahrungsaufnahme vorgeschrieben, um eine Übertragung von infektiösen Erregern zu vermeiden und den Egel hungrig und „beißlustig“ zur Anwendung zu bringen. Der Egel darf als Arzneimittel nur einmalig verwendet werden. Daher muss der gesättigte Egel nach der Therapie entweder per Rücksende -Kit dem sogenannten „Rentnerteich“ zugeführt oder muss eingefroren und dann entsorgt werden. Der „Rentnerteich“ wird von einem mittelhessischen Hersteller des Arzneimittels Blutegel betrieben.
Blutegel – ein lebendiges Arzneimittel
Der Blutegel ist ein lebendiges Arzneimittel und bedarf bezüglich der Handhabung und der Anwendung besonderer Aufmerksamkeit und eines respektvollen Umgangs in ruhiger Umgebung. Vor der Anwendung ist es wichtig, dass Diagnostik und Indikation sauber geprüft werden, um Möglichkeiten und Grenzen der Therapie zu klären. Zudem gibt es Kontraindikationen zu beachten (zum Beispiel laufende Therapie mit Blutverdünnern, Blutarmut, Krebserkrankungen) und mögliche Nebenwirkungen (wie Juckreiz, Rötung, Schwellung) zu besprechen. Auch wenn das Tier über Jahrhunderte ein „Mitarbeiter alter Hausapotheken“ war, empfiehlt es sich, einen erfahrenen Egeltherapeuten für eine Behandlung aufzusuchen, um mögliche Komplikationen (wie Infektionen) durch falsches Handling des Tieres zu vermeiden und auch die fachgerechte Vorbereitung, Wundversorgung und Nachsorge zu erhalten, sonst endet der Therapieversuch mit dem Ergebnis: „Die Blutegel beißen nicht“ oder „die Blutegel taugen nichts“ frustrierend für Patient, Therapeut und Egel.
Für den Therapeuten empfehlenswert sind Tagesseminare, die ausführliches theoretisches Hintergrundwissen und praktisches Training in Umgang und Ansetzen der Tiere anbieten. Mit dieser Schulung kann der Blutegel eine gute Ergänzung oder Alternative bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen bieten.