Gifte ohne und mit „Zeitzünder“ - Teil 3
Im ersten Teil dieser Serie wurden Gifte mit rasch einsetzender Wirkung behandelt und im zweiten Teil auf solche eingegangen, deren Erkennung und Nachweis besondere Anforderungen an einen Arzt und Toxikologen stellen da ihre Wirkung oft erst mit einer oft erheblichen zeitlichen Verzögerung eintritt.
Die Beschreibung dieser Substanzen mit fehlender Initialwirkung soll in diesem Abschnitt fortgesetzt werden:
2.6 Cumarinderivate
Besonders heimtückisch sind Ratten- und Mäuseköter auf Cumarinbasis, wenn sie beispielsweise von Haustieren gefressen oder auf Spielplätzen für Kinder leicht zugänglich ausgelegt werden. Als Vitamin-K-Antagonisten führen sie zu Störungen der Blutgerinnung, die sich vor allem in quälenden inneren Blutungen äußern. Die für den Tierhalter sichtbare Reaktion, beispielsweise eines Hundes oder einer Katze, auf die Giftaufnahme besteht häufig zunächst nur in einer massiven Müdigkeit bzw. Mattigkeit. Nach etwa 48 Stunden leiden viele Tiere bereits an blutigem Durchfall und Erbrechen. Die Schleimhäute sind blass und werden zunehmend weißer. Leider werden die Tiere dem Tierarzt häufig erst in diesem Stadium vorgestellt, in dem es oft schon zu spät für rettende Maßnahmen (Antidot: Vitamin K) ist.
2.7 Pilzgifte
Die Frage nach toxischen Substanzen mit verzögerter Wirkung wird z.B. von Laien oft mit dem Hinweis auf Pilzgifte beantwortet.
Abb. 8 zeigt als Beispiel den grünen Knollenblätterpilz, der lt. Auskunft der nationalen Giftzentren für rund 90 Prozent der letalen Pilzvergiftungen verantwortlich ist. Auch der Verzehr von nur geringen Mengen des Fruchtkörpers kann tödlich giftig sein, da die in ihm enthaltenen Gifte (Amatoxine und Phallotoxine) zu Leberversagen führen. Nach einer Latenzzeit von meist 8 bis 12 Stunden treten Bauchkrämpfe und z.T. blutige Brechdurchfälle auf, die anschließend wieder abklingen können. Schließlich folgt nach 4 bis 7 Tagen eine akute Leberdystrophie mit meist letalem Verlauf. Für eine Person mit 75 kg Körpergewicht können bereits 7 mg Amanitin tödlich sein. Diese Menge ist in weniger als 35 Gramm Frischpilz enthalten. Die mögliche Rettung besteht in einer Lebertransplantation.
Zu Giften mit fehlender Initialwirkung zählen grundsätzlich auch alle Substanzen, die ihre mehr oder weniger schädliche Wirkung erst im längeren zeitlichen Verlauf zeigen, wie z.B. langfristige Schädigungen durch Radioaktivität, Alkohol-, Nikotin-, Medikamenten- und Drogenmissbrauch sowie andere Noxen. Im Rahmen dieses Beitrages sollten jedoch jene Stoffe im Vordergrund stehen, deren Wirkungen nicht auf einer chronischen Schädigung beruhen, sondern im zeitlich überschaubaren Rahmen nach der Aufnahme auftreten.
Das Verteilungsspektrum der Giftstoffe ist einem ständigen Wandel unterworfen. An erster Stelle stehen meist die Verfügbarkeit und der Bekanntheitsgrad einer Substanz. Wird beispielsweise ein bisher frei erhältlicher Wirkstoff der Verordnungspflicht („Rezeptpflicht“) unterstellt, so löst ihn häufig eine (noch) nicht „rezeptpflichtige“ Substanz ab (so geschehen bei zahlreichen Beruhigungs- und Schlafmitteln).
Andererseits sind Medienberichte über Vergiftungen prominenter Opfer (Beispiele Amy Winehouse oder Michael Jackson) oder Diskussionen in gewissen Internetforen häufig ausschlaggebend für die Auswahl eines Giftes oder einer bestimmten Suizidstrategie.
Nach wie vor stehen aber Medikamente an der Spitze der im Zusammenhang mit Vergiftungen nachgewiesenen Fremdstoffe. Es folgen Haushaltschemikalien und sog. Genussmittel sowie Giftpflanzen. Dabei besteht eine unterschiedliche Verteilung auf Erwachsene und Kinder.
„Exotische“ Stoffe
Abhängig von der Verfügbarkeit bei spontanen Suizidabsichten, dem beruflichen Umfeld (z.B. Galvaniseur mit Zugang zu zahlreichen Metallgiften) sowie anderen besonderen Umständen können gelegentlich auch sehr ausgefallene Stoffe bei Vergiftungen eingesetzt werden und den Nachweis erheblich erschweren. Dazu zählen neben seltenen Medikamenten auch viele pflanzliche und tierische Gifte, weiterhin „exotische“ Stoffe wie z.B. Polonium (210Po) bei einem spektakulären Vergiftungsfall (russischer Ex-Agent Alexander Litvinenko im November 2006) oder Rizin mit der Beibringung durch eine Schirmspitze („Regenschirmattentat“ 1978 in London auf Georgi Markov). Berichtet wird sogar über einen Mord mit schwerem Wasser (D2O anstatt H2O), das in einem Kernkraftwerk gestohlen wurde und dessen Aufklärung nur durch Zufall gelang.
Über den Autor
Forensischer Toxikologe
Institut für Rechtsmedizin der Universität Gießen