Mit Bildern und leichten Texten auch schwere Themen begreifbar machen

Bilderbücher zum Thema Demenz stärken die ganze Familie

Bei Bilderbüchern denken wir meistens spontan an Kinder. Indem wir ihnen vorlesen, begeistern wir sie für das Medium Buch und machen sie schließlich selbst zu Lesern. Doch Bilderbücher vermögen viel mehr! In ihnen steckt bibliotherapeutisches Potential, das in schweren Situationen der ganzen Familie helfen kann. Ein Beispiel dafür sind Bilderbücher, die sich um das belastende Thema Altersdemenz oder Alzheimer drehen. Ist ein Familienmitglied akut betroffen, tragen alle übrigen mit an der Erkrankung, und es fällt bisweilen schwer, in einer solchen Situation die richtigen Worte zu finden. Bilderbücher können Kindern, aber auch deren Eltern und Großeltern helfen, sich an das Thema heranzutasten; sie finden (auch im übertragenen Sinne) Bilder, um die neue Situation begreifbar zu machen. Und sie zeigen anhand der in den Geschichten dargestellten Menschen, wie man seine eigenen verqueren Gefühle zwischen Angst, Zuneigung und Verzweiflung wieder in Einklang bringen kann.

Das Wetzlarer Projekt „Vorlesen in Familien“ setzt eigentlich andere Schwerpunkte, hat aber auch zu den Themen Alter und Krankheit Bücher im Angebot, die auf Wunsch vor Ort (in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, Turmstraße 20) eingesehen werden können.

Der Markt bietet einige Bilderbücher zum Thema Demenz. Manche sind klar als Betroffenheitsliteratur zu erkennen, andere nähern sich dem Thema eher poetisch. Zu den schönsten Büchern, die in diesem Zusammenhang überhaupt erschienen sind, zählt Tine Mortiers „Marie und die Dinge des Lebens“, ein von Kaatje Vermeire zauberhaft illustriertes Bilderbuch, in dem die kleine Marie Veränderungen an ihrer geliebten Großmutter beobachtet. Besonders betroffen macht es sie, dass die Großmutter allmählich ihre Worte verliert und sie sich nicht mehr mitteilen kann. Was sie bewahrt, sind ihre Gefühle, doch vermögen nur wenige Menschen in Maries Umfeld, diese zu erkennen. Als ihr Großvater stirbt, weiß allein die kleine Marie instinktiv, was sie tun muss, um gerade jetzt für ihre Großmutter da zu sein.

Obwohl „Marie und die Dinge des Lebens“ gleich zwei schwere Themen behandelt - Demenz und Tod - ist es den beiden Verfasserinnen gelungen, daraus eine Hoffnung gebende Geschichte voller Trost zu spinnen, die besonders deshalb so anrührt, weil mit Marie ein kleines Mädchen diejenige ist, die eine Lösung für die Großmutter findet. Hier wird einem Kind das nötige Vertrauen geschenkt, etwas richtig zu machen, und das in einer Situation, in der generell die Erwachsenen als Ratgeber und Lösungsfinder gelten. Dies macht die Stärke dieses ermutigenden Bilderbuchs aus. (Leider ist es derzeit nicht mehr lieferbar und kann nur antiquarisch erworben werden. Vielleicht tragen der Artikel und entsprechende Nachfragen der Leser beim Bohem-Verlag dazu bei, es wieder ins Programm zu nehmen.)
Einen ähnlichen Ansatz wählt Jutta Treiber in ihrem Bilderbuch „Die Wörter fliegen“, in dem sie zeigt, wie sich im Laufe eines Lebens die Vorzeichen verändern. Als Pia noch klein ist, fliegen die Wörter von Oma zu ihrer Enkelin. Oma bringt ihr alles bei, lehrt sie die Namen von allen Dingen. Immer größer wird so Pias Wortschatz. Doch mit der Zeit verdrehen sich Omas Wörter. Anstelle von Fenster sagt sie „Teller“, der Swimmingpool wird bei ihr zum „Blauwasserteich“. Es ist, als wären all ihre Wörter davongeflogen. Behutsam und voller Liebe ist nun Pia für ihre Oma da. Geduldig hilft sie ihr, die richtigen Wörter zu finden und zeigt ihr allein durch ihre Aufmerksamkeit, welch tiefe Liebe und Wertschätzung sie ihrer Oma auch dann noch entgegenbringt, als diese sich immer mehr aus dem Leben zurückzieht. Die federleichten, sehr zarten Illustrationen von Nanna Prieler stützen das Hoffnungsvolle, Poetische dieses zauberhaften Bilderbuchs, das zwar schon für Kinder verständlich ist, aber auch Erwachsenen noch sehr viel zu geben hat.

Bunter, witziger, kindernaher gehen Kirsten John und Katja Gehrmann in „Opa Rainer weiß nicht mehr“ mit dem Thema Demenz um. Sehr konkret benennt Kirsten John in lauter Einzelsituationen, was Opa Rainer plötzlich nicht mehr weiß - etwa welches der vielen Paar Schuhe im Flur sein eigenes ist, wozu ein Kleiderhaken gut ist und was um Himmels Willen man mit einem Stecker anfängt. Manche der Probleme von Opa Rainer bringen die Kinder zum Lachen. Andere aber machen sie wütend - etwa, wenn Opa plötzlich nicht mehr weiß, wer Mia ist. Mia, sein Enkelkind, das uns ihre gemeinsame Geschichte erzählt und fassungslos ist, als er sie nicht erkennt. Letztlich aber zeigt sich die Stärke auch dieses Bilderbuchs darin, dass es das betroffene Kind ist, das ganz selbstverständlich einen Weg findet, mit der Erkrankung des Großvaters umzugehen. Unbefangener und leichter als ein Erwachsener das vermag. Als der Großvater Kekse essen möchte und sagt, dass er nicht mehr weiß, wie man sie aufmacht, bricht Mia einen Keks durch und gibt ihm eine Hälfte. „Das ist ja auch schwer“, sagt sie, als sie die andere Hälfte isst. Spielerisch gibt sie so dem Opa seine Würde zurück und ist damit auch für den vorlesenden Erwachsenen ein kleines Vorbild.

Bilderbücher zum Thema Demenz stärken die ganze Familie. Sie helfen den Kindern zu verstehen, was die Krankheit bedeutet, und sie bestärken die vorlesenden Erwachsenen darin, offen mit ihren Kindern zu sprechen. Vor allem aber zeigen sie der ganzen Familie, dass sich ein an Alzheimer oder Demenz erkrankter Mensch zwar nicht mehr zwingend in unserer Logik bewegt, dabei aber doch noch Gefühle haben und erkennen kann - und dass es möglich ist, mit der Erkrankung und den Erkrankten zu leben.

 

 

 

 

Das Wetzlarer Projekt „Vorlesen in Familien“ unterstützt Familien durch ehrenamtliche Vorleser, die regelmäßig mit Bilderbüchern zu den Kindern nach Hause kommen und nicht nur für ihr Vorleserkind eine große emotionale Stütze darstellen, sondern für die ganze Familie. Das Projekt finanziert sich zum großen Teil aus Spenden und ist deshalb ganzjährig auf Unterstützung angewiesen. Nähere Informationen zur Ausbildung zum Vorleser und zum Projekt selbst finden sich auf der Homepage:

https://www.phantastik.eu/projekte/vorlesen-in-familien.html

IBAN: DE49 5139 0000 0012 9129 00

BIC: VBMHDE5F (Volksbank Mittelhessen)

Stichwort: ViF

Über den Autor

Maren Bonacker
Maren Bonacker
Lese- und Literaturpädagogin
Phantastische Bibliothek Wetzlar

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