Digitale Medien im Bilderbuch

Schau MICH an!

Tablet, Handy und Spielkonsolen sind immer wieder Anlass zu Streit und endlosen Diskussionen in Familien. „Hock nicht dauernd vorm PC“, maulen die Eltern. Doch die Kinder wehren sich: „Sprich mit mir!“ war im vergangenen Jahr der Titel einer bundesweiten Kinderkampagne, mit der sie darauf aufmerksam machen wollten, dass viele Eltern sich im Alltag intensiver mit ihren Handys beschäftigen, als ihnen Beachtung zu schenken. „Schau MICH an!“ könnte ihr Protest ebenfalls lauten. „Achte auf MICH! Sieh MEINE Bedürfnisse!“ Ganz allmählich rutschen solche Situationen ins Bilderbuch, werden digitale Medien als familiärer Streitpunkt in den Fokus gerückt und geben damit Vorlesern und Kindern die Möglichkeit, darüber ins Gespräch zu kommen.
Das sozialpräventive Wetzlarer Projekt „Vorlesen in Familien“ hat diesmal gleich zwei solcher Bilderbücher auf ihre Bestenliste gesetzt.

„Ein großer Tag, an dem fast nichts passierte“, lautet der Titel eines auf den ersten Blick düster erscheinenden Bilderbuchs, aus dem lediglich die Regenjacke des erzählenden Kindes orange herausleuchtet. Die Stimmung ist gedrückt: „Da waren wir wieder. Im selben Ferienhäuschen … im selben Regen …“ Mama sitzt am Laptop und schreibt, das Kind tötet Marsmännchen mit seinem elektronischen Spielgerät. Bis zum klassischen Mama-Satz: „Jetzt leg doch dieses Ding weg!“ Während sie selbst bei „ihrem Ding“ verweilt, erwartet sie von ihrem Kind mehr Kreativität, mehr aktiven Spieltrieb, mehr Entdeckerlust. Folgsam schleicht das Kind in den Regen hinaus - naja, FAST folgsam, denn vorher holt es sich „wie immer“ sein Gerät zurück. Unbemerkt von der Mutter, die mit dem Rücken zum Raum am Laptop sitzt und nichts mitbekommt. Doch allein draußen im Wald widerfährt dem Kind ein großes Unglück: Das elektronische Gerät fällt in den See und versinkt! Niedergeschmettert hockt das Kind unter einem Baum und beginnt von da aus erst ganz allmählich, die es umgebende Natur wahrzunehmen. Immer großartiger wird das Erlebnis Wald, immer schöner gestalten sich die Abenteuer des Kindes. Als endlich noch die Sonne durch die Wolken bricht, ist das Kind voller Lebensfreude und Energie, rennt, purzelt, springt in Pfützen und atmet tief die frische, regennasse Luft. Angefüllt mit Eindrücken kehrt es schließlich ins Häuschen zurück, wo die Mutter noch immer am Laptop sitzt. Doch etwas hat sich geändert; etwas liegt in der Luft, das auch die Mutter aufmerken lässt, so dass sie sich endlich ihrem Kind zuwendet, es SIEHT. Das Ende ist unaufgeregt. Beide trinken gemeinsam Kakao, lauschen derselben Stille und sind glücklich in ihrer Zweisamkeit.

Weil das Kind bis zum Schluss nicht klar als Junge oder Mädchen zu identifizieren ist, bietet es eine große Identifikationsfläche für die lesenden Kinder. Der Vater ist an diesem Wochenende nicht da. Ist es nur jetzt fort? Oder länger? Lebt er vielleicht gar nicht mehr mit seiner Familie zusammen? Oder ist er gar gestorben? Auch hier sind verschiedene Lösungen denkbar. Die Leerstellen laden dazu ein, sie mit eigenen Ideen zu füllen - und auch dazu, mit anderen darüber zu reden. So, wie man auch darüber diskutieren kann, ob es unfair von der Mutter ist, dem Kind das Spiel zu verbieten, während sie selbst am Laptop sitzen bleibt.

Die Mitglieder der AG Bücher für Vorleser fanden dieses Buch so lebensnah und echt, so voller Möglichkeiten und Perspektiven, dass sie es mit dem HUCKEPACK-Bilderbuchpreis 2019 auszeichneten.

Auch im zweiten Buch geht es um eine Mutter, die über ihrem Handy ihr Kind nicht wahrnimmt. Sie ist mit ihrer kleinen Tochter im Park - einem grauen Labyrinth aus Mauern mit wenig Möglichkeiten zum Spielen. Das Kind hat ein knallrotes Dreirad dabei, darf damit aber (titelgebend) „Nicht um die Ecke“ fahren. Das Verbot wird ausgesprochen, ohne dass die Mutter ihr Kind dabei ansieht. Ihr Blick ruht auf dem Handy in der Hand. So sieht sie nicht den Blick des Kindes, voller Zorn über das Verbot, das für das Kind keinen Sinn macht. Trotzig fährt es los - geradewegs um die Ecke! Weg von der Mutter.

Nun will man in der Regel seinem Kind mit dem Vorlesen eines Bilderbuch nicht vermitteln, dass es in Ordnung ist, ein Verbot zu umgehen. Das Mädchen, das allein im Park großartige Entdeckungen voller Farben und Phantasie macht, vermittelt aber vordergründig, dass es Spaß macht, sich der Mutter zu widersetzen. Tiefer gehend jedoch lädt genau diese Situation abermals dazu ein, in eine klärendes Gespräch zu kommen, das vor allem auch dem Kind die Gelegenheit gibt, seine Bedürfnisse zu äußern. Die Aktion „Spricht mit mir!“ kam nicht von ungefähr. So ist „Nicht um die Ecke“ ein graphisch ungewöhnliches und sehr beeindruckendes Werk, das Kindern den Rücken stärkt, wenn sie ihren Eltern sagen wollen, dass sie sich mehr Aufmerksamkeit wünschen. Und DAS ist bemerkenswert!

 

Das Wetzlarer Projekt „Vorlesen in Familien“ unterstützt Familien durch ehrenamtliche Vorleser, die regelmäßig mit Bilderbüchern zu den Kindern nach Hause kommen. Einmal im Jahr verleihen die Mitarbeiter des Projekts den HUCKEPACK Bilderbuchpreis, der symbolisch für Halt und Weitsicht steht - beides positive Attribute sowohl des Vorlesens als auch des Huckepacknehmens.

Zehn weitere Titel werden auf einer Empfehlungsliste mit Büchern genannt, die besonders dazu geeignet sind, Kinder seelisch zu stärken. Eine kommentierte Broschüre mit diesen Titeln kann in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar abgeholt oder im Internet eingesehen werden.

(www.phantastik.eu)

Das Projekt finanziert sich zum großen Teil aus Spenden und ist deshalb ganzjährig auf Unterstützung angewiesen.

IBAN: DE49 5139 0000 0012 9129 00

BIC: VBMHDE5F (Volksbank Mittelhessen)

Stichwort: ViF

Über den Autor

Maren Bonacker
Maren Bonacker
Lese- und Literaturpädagogin
Phantastische Bibliothek Wetzlar

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