Die Entwicklung menschlicher Intelligenz

Das Alter des "Vernunftbegabten Menschen" Homo Sapiens wird auf rund 150 Tausend Jahre geschätzt. Über die Anfänge ist wenig bekannt. Vor etwa 11-14 Tausend Jahren begannen die Menschen nach einer Kälteperiode sesshaft zu werden. Das Zusammenleben in Gruppen ermöglichte es gemeinsam Ideen zu entwickeln und vorhandenes Wissen zu verbreiten. Dies war vermutlich der entscheidendste Schritt in der menschlichen Evolution. Die letzten 5000 Jahr vor Chr. waren von bis dahin vergleichsweise großen Entwicklungen geprägt, z.B. wurden die Keramik, das Rad, die Keilschrift, Glas, mechanische Rechengeräte, Flaschenzüge, erste Automaten, Apparate mit mechanischer Dampfdrucknutzung und das Papier erfunden. Noch wesentlich rasanter ist die Geschwindigkeit technischer Entwicklungen seit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert. Mit einer für die vorangegangene Menschheitsgeschichte nie dagewesenen Geschwindigkeit verändern Entdeckungen und Erfindungen die Welt. Eine unglaubliche Expansion menschlichen Wissens und dessen Verfügbarkeit, die Nutzung maschineller Kraft von der Dampfmaschine bis zur Atomenergie, grenzenlose Kommunikation und Mobilität sind grobe Stichworte.

Doch ist der heutige Mensch deshalb wirklich intelligenter als seine Vorfahren?

Wer die Schriften Platons aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. liest, findet hier einen berechtigten Einwand gegen die These der Intelligenzvermehrung. Es gab vor Tausenden Jahren hochintelligente Menschen, deren Scharfsinn wir noch heute bewundern. Ob der Erfinder der Glühbirne Thomas Alva Edison klüger als Platon war vermag ich nicht zu sagen. Er hatte aber den Vorteil bereits vor seiner Erfindung auf ein breites, erlerntes Wissen zurückgreifen zu können, von dem man zu Platons Zeiten nichts ahnte. Unsere technische Revolution ist kein Beleg einer wachsenden Intelligenz, sondern Ausdruck aufeinander aufbauender Wissensentwicklung sowie einer zunehmenden Vernetzung und Arbeitsteilung.

Die Überlegenheit menschlicher Intelligenz

Um die herausragenden Eigenschaften menschlicher Intelligenz besser zu verstehen ist der Tiervergleich hilfreich. Was zeichnet den Menschen aus? Hunde können träumen. Raben, so hat es die Verhaltensforschung in Experimenten nachgewiesen, können Pläne schmieden um komplexe mechanische Aufgaben zu lösen. Orang-Utans, denen man das Memory-Spiel an einem Touch-Screen beigebracht hat, lösten sämtliche Aufgaben in einer den meisten Menschen weit überlegenen Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit. Sie verfügen über ein enormes Bildergedächtnis und Reaktionsvermögen. Über den Umfang der Kommunikationsfähigkeit von Tieren staunen wir, je mehr es den Forschern gelingt, diese zu entschlüsseln. Aus einer langen Liste sind dies nur wenige Beispiele, welche die folgende wissenschaftliche These stützen:

Die Überlegenheit des Menschen gegenüber den Tieren besteht weniger in seiner Intuition oder Kognition als vielmehr in der Fähigkeit Wissen zu speichern, es weiter zu geben und Probleme gemeinsam zu lösen. Dabei ist die "Schwarmintelligenz", die Fähigkeit eine Aufgabe beliebig zu teilen um sie gemeinsam zu lösen vermutlich die wichtigste.

Kein Mensch ist heute in der Lage, ganz allein ein Auto herzustellen oder auch nur zu verstehen. Der Automobilingenieur mag den Motor erklären können, aber vom Navigationscomputer nichts verstehen. Und die Produktion sämtlicher Einzelteile eines Motors beginnend mit der Materialherstellung überblickt auch der Ingenieur nicht mehr. Der Nichtexperte ist froh, wenn er die vollständige Bedienung seines Autos begreift.

Intelligenzmessung und -forschung

Zur Messung und zum Vergleich menschlicher Intelligenz haben Psychologen Intelligenztests entwickelt. Dabei wird Intelligenz als eine Summe verschiedener Fähigkeiten betrachtet. Dazu gehören Sprachverständnis, logisches Denken, Gedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Das Ergebnis wird in einem sogenannten Intelligenzquotienten IQ zusammengefasst. Der Testwert gibt die Relation der gemessenen Leistung zum Durchschnitt an, deshalb Quotient. Dabei entspricht ein IQ von 100 dem Durchschnitt. Ab einem Wert von 130 spricht man von einer Hochbegabung. Ein heute oft verwendeter Test ist der bereits 1949 entwickelte "Hamburg-Wechsler-Test". Weil dieser Test schon lange existiert, ist es möglich Ergebnisse des Tests über längere Zeiträume zu vergleichen.

Die bahnbrechende Entdeckung des James Flynn

Genau dies hat der Philosophieprofessor James Flynn in den 80er Jahren getan. Er hat die Ergebnisse von Studien über Intelligenzmessungen aus insgesamt 35 Ländern und mehreren Jahrzehnten verglichen und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: In sämtlichen westlichen Industrienationen ist der IQ von Generation zu Generation gestiegen, wobei der Unterschied mit 5 bis 25 Punkten ganz erheblich ist. Dieses Phänomen, dass nach sorgfältiger Prüfung allgemeine Anerkennung fand, erhielt schließlich nach seinem Entdecker der Namen "Flynn-Effekt". So unbestreitbar der Effekt ist, so wenig eindeutig seine Ursachen. Die in einem Intelligenztest gemessenen Leistungen sind grundsätzlich trainierbar. Wer viel auswendig lernen muss wird seine Merkfähigkeit steigern, wer öfters Schach spielt wird sich verbessern und selbst das Lösen mathematischer Aufgaben ist trainierbar.

Eine allgemeine, gute und kontinuierliche Schulbildung wird somit die Testergebnisse positiv beeinflussen. Zudem werden auch die wirtschaftliche Entwicklung der Nachkriegsjahre einhergehend mit der Vermeidung von Mangelernährung, einer besseren medizinischen Versorgung und besseren Hygienebedingungen als Gründe herangezogen. Der Fynn-Effekt ist vermutlich die Summe aus gegenüber den Vorjahren gesünderen Lebensbedingungen und einer besseren Schulbildung.

Der umgekehrte Flynn-Effekt

Lange nach dem beruflichen Ausscheiden von Prof. James Flynn haben Forscher der Universität Oslo begonnen die IQ-Testergebnisse der "Nach-Flynn-Ärea" zu vergleichen. Es folgten zahlreiche Studien in Westeuropa und Australien. Das überraschende Ergebnis: Seit 1994 sinkt der IQ um durchschnittlich 0,25 bis 0,5 Punkte pro Jahr. Das Phänomen erhielt den Namen "Umgekehrter Flynn-Effekt" und hat unter Wissenschaftler lebhafte Debatten ausgelöst.

Einige Wissenschaftler haben Zweifel daran, dass die schlechteren Testergebnisse gleichbedeutend mit einer negativen Intelligenzentwicklung sind. Das Ergebnis eines Testes hängt auch davon ab, was wir wie messen. Wenn man die Testinhalte "Modernisieren" würde, ließen sich andere Ergebnisse erzielen. Nur wären diese dann auch nicht mehr mit älteren vergleichbar.

 

James Flynn hat seine eigene Meinung zu den Studienergebnissen wie folgt kundgetan:

"Die größte Veränderung, die mir über die Jahre aufgefallen ist, ist das Verschwinden anspruchsvoller Bücher....Die Kinder verlieren sich in den Computerspielen. Und so gut sie im Daddeln werden, so schlecht werden sie darin, logisch zu denken." Seinen Studenten, bemerkte Flynn, fiel es immer schwerer, Schopenhauer zu lesen. (Zitat aus der "Zeit" vom 28.3.19)

Nur wer sich konzentrieren kann, kann gut lernen. In den westlichen Industrienationen werden bei Kindern immer häufiger Aufmerksamkeitsdefizitstörungen (ADHS) und Störungen aus dem Autismusspektrum festgestellt.

Es stellt sich auch die Frage, ob unsere Schulen dieser Entwicklung entgegenwirken können oder ob die Entwicklung unseres Bildungssystems gar ein Teil des Problems ist. Schließlich beeinflusst auch die Digitalisierung unser Lernverhalten. Wer sich nichts merken muss, trainiert sein Gedächtnis nicht mehr. Wer sich ständig ablenkt, lernt nicht sich zu konzentrieren. Überspitzt könnte man formulieren: Wer eine künstliche Intelligenz für sich denken lässt, wird selbst dumm. Ein Aspekt, den wir bei beim Digitalprojekt unserer Schulen nicht vergessen sollten.

Selbstverständlich bieten Digitalisierung und Vernetzung enorme Möglichkeiten einer weltweiten "Schwarmintelligenz", Erkenntnisgewinnung und technischen Weiterentwicklung. Wie bei allem in der Welt gilt es aber auch Risiken und Nebenwirkungen insbesondere für das Individuum zu bedenken.

 

Über den Autor

Dr. med. Roger Agne
Dr. med. Roger Agne
Chefarzt Innere Medizin
Dill-Kliniken

Bildergalerie

Aktuelle Ausgabe04.04.